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Leichenraub

Leichenraub

Titel: Leichenraub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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strömenden Regen. Entschlossen stapfte er durch die Pfützen zu seiner Unterkunft, wo er rasch in alte Kleider schlüpfen würde, um sich dann noch einmal in den Regen hinauszuwagen.
     
    Sein Ziel war eine Schenke in der Broad Street, nicht weit vom Hafen. Hier traf man keine elegant gekleideten Harvard-Zöglinge, die an ihrem Rum-Flip nippten. Sollte ein Gentleman sich zufällig in das Black Spar verirren, würde er sich nur einmal kurz umsehen müssen, um zu wissen, dass es ratsam wäre, ein Auge auf seine Geldbörse zu haben. Norris hatte an diesem Abend kaum etwas von Wert in seinen Taschen – wie übrigens auch an jedem anderen Abend; sein schäbiger Mantel und seine schlammbespritzten Hosen würden gewiss keinen Taschendieb hinter dem Ofen hervorlocken. Er kannte schon einige der Stammgäste, und sie wussten um seine ärmlichen Verhältnisse; so hoben sie nur kurz die Köpfe, als er eintrat. Ein Blick, um zu sehen, wer da gekommen war, und schon stierten alle wieder in ihre Gläser.
    Norris trat an die Theke, wo die mondgesichtige Fanny Burke stand und Bier zapfte. Sie fixierte ihn mit ihren kleinen, bösen Augen. »Du bist spät dran, und er hat üble Laune.«
    »Fanny!«, grölte einer der Gäste. »Kriegen wir diese Woche noch was zu trinken oder nicht?«
    Die Frau trug die Gläser zum Tisch und knallte sie vor die Gäste hin. Nachdem sie das Geld eingesteckt hatte, machte sie kehrt und zog sich wieder hinter den Schanktisch zurück. »Er ist hinten im Hof, mit dem Wagen«, sagte sie zu Norris. »Er wartet schon auf dich.«
    Norris hatte keine Zeit gehabt, etwas zu essen, und er beäugte hungrig den Brotlaib, den sie hinter dem Schanktisch aufbewahrte. Doch er machte gar nicht erst den Versuch, sie um eine Scheibe anzubetteln. Bei Fanny Burke gab es nichts umsonst, nicht einmal ein Lächeln. Mit knurrendem Magen stieß er eine Tür auf, durchquerte den dunklen, mit Kisten
und Gerümpel vollgestellten Flur und trat durch die Hintertür ins Freie.
    Im Hof roch es nach nassem Stroh und Pferdemist, und der unablässige Regen hatte den Boden in einen matschigen Acker verwandelt. Unter dem Vordach des Stalls wieherte ein Pferd, und Norris sah, dass es bereits vor den Rollwagen gespannt war.
    »Das nächste Mal wart ich nicht auf dich, Junge!« Fannys Mann Jack tauchte aus dem Dunkel des Stalls auf. Er trug zwei Schaufeln, die er hinten auf den Karren warf. »Wenn du Wert drauf legst, bezahlt zu werden, dann sei gefälligst zur vereinbarten Zeit hier.« Ächzend schwang er sich auf den Bock und nahm die Zügel in die Hand. »Kommst du jetzt?«
    Im Schein der Stalllaterne sah Norris, wie Jack auf ihn herabstarrte, und wie immer war er verwirrt und wusste nicht recht, welches Auge er ansehen sollte. Das linke und das rechte blickten in völlig verschiedene Richtungen. Schielaugen-Jack , so wurde der Mann von allen genannt – allerdings nur hinter seinem Rücken. Niemand hätte es gewagt, ihn so anzureden.
    Norris kletterte zu Jack auf den Wagen. Der wartete nicht erst, bis Norris richtig auf dem Bock saß, sondern ließ sofort ungeduldig die Peitsche schnalzen. Das Pferd zog an, und der Wagen rollte über den schlammbedeckten Hof und zum hinteren Tor hinaus.
    Der Regen prasselte auf ihre Hüte und rann in kleinen Bächen an ihren Mänteln herab, doch Schielaugen-Jack schien sich überhaupt nicht daran zu stören. Wie ein buckliger Kobold hockte er neben Norris und ließ nur dann und wann die Peitsche knallen, wenn das Pferd seinen Schritt ein wenig verlangsamte.
    »Wie weit fahren wir diesmal?«, fragte Norris.
    »Aus der Stadt raus.«
    »Wohin?«
    »Spielt das eine Rolle?« Jack zog einen Batzen Rotz hoch und spuckte ihn auf die Straße.

    Nein, es spielte keine Rolle. Was Norris betraf, war dies eine Nacht, die er einfach hinter sich bringen musste, ganz gleich, wie unangenehm es werden mochte. Er hatte nie die harte Arbeit auf der Farm gescheut, und er genoss es sogar, wenn seine Muskeln vom tüchtigen Gebrauch schmerzten, aber von dieser Art von Arbeit konnte man Albträume bekommen. Als normaler Mensch jedenfalls. Er sah seinen Gefährten von der Seite an und fragte sich, wovon einer wie Jack Burke wohl Albträume bekam, wenn überhaupt.
    Der Rollwagen holperte über das Pflaster, und das Klappern der Schaufeln hinten auf der Ladefläche mahnte sie unablässig an die unangenehme Aufgabe, die vor ihnen lag. Norris dachte an seine Kommilitonen, die in diesem Moment gewiss in der warmen Stube des Hurricane

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