Leichenraub
irgendwelchen verdächtigen Spuren im Haus. Keine Anzeichen für einen Einbruch.«
»Vielleicht war der Mörder nicht an ihrem Besitz interessiert. Sondern nur an ihr. An dem, was er ihr antun konnte.«
Isles sagte ruhig: »Glauben Sie mir, ich weiß, was Sie denken. Wovor Sie Angst haben. In meinem Beruf sehe ich immer wieder, was Menschen anderen Menschen antun können. Furchtbare Dinge, die einen an der Bedeutung des Wortes ›menschlich‹ zweifeln lassen und die Frage aufwerfen, ob wir auch nur einen Deut besser sind als Tiere. Aber dieser spezielle Todesfall lässt bei mir keine Alarmglocken läuten. Man sollte immer zuerst an das Naheliegende denken, und wenn eine zweiundneunzigjährige Frau in ihrem eigenen Garten tot aufgefunden wird, ist Mord nicht die erste Vermutung, die sich einem aufdrängt.« Isles musterte Julia eine Weile. »Wie ich sehe, stellt Sie das nicht zufrieden.«
Julia seufzte. »Ich weiß nicht, was ich denken soll. Ich bereue schon, dass ich das Haus überhaupt gekauft habe. Ich habe nicht eine Nacht ruhig schlafen können, seit ich dort eingezogen bin.«
»Sie wohnen noch nicht sehr lange dort. Ein Umzug in eine
neue Umgebung bedeutet immer Stress. Geben Sie sich ein wenig Zeit zur Eingewöhnung. Es gibt immer eine gewisse Umstellungsphase.«
»Ich hatte Träume«, sagte Julia.
Isles schien nicht beeindruckt – und warum sollte sie es sein? Sie, eine Frau, die ihre Zeit damit zubrachte, Leichen aufzuschlitzen, eine Frau, die sich für einen Beruf entschieden hatte, der den meisten Menschen schlaflose Nächte verursachen würde? »Was für Träume?«
»Es ist jetzt drei Wochen her, und ich habe sie fast jede Nacht gehabt. Ich hoffe immer, dass sie irgendwann aufhören; dass es nur der Schock war, diese Knochen in meinem Garten zu finden.«
»Davon könnte jeder Albträume bekommen.«
»Ich glaube nicht an Geister. Wirklich nicht. Aber ich habe das Gefühl, dass sie versucht, mir etwas zu sagen. Dass sie mich auffordert, etwas zu tun .«
»Die verstorbene Vorbesitzerin? Oder das Skelett?«
»Ich weiß es nicht. Irgendjemand .«
Isles’ Miene blieb vollkommen neutral. Falls sie Julia für verrückt hielt, ließ sie es sich nicht anmerken. Aber ihre Worte ließen keinen Zweifel an ihrem Standpunkt in der Sache. »Ich bin nicht sicher, ob ich Ihnen da helfen kann. Ich bin nur Rechtsmedizinerin, und ich habe Ihnen meine Meinung als Expertin gesagt.«
»Und nach Ihrer Expertenmeinung ist Mord immer noch eine Möglichkeit, oder?«, beharrte Julia. »Sie können es nicht ausschließen.«
Isles zögerte. »Nein«, gestand sie schließlich ein. »Das kann ich nicht.«
In dieser Nacht träumte Julia von Krähen. Zu Hunderten hockten sie in einem toten Baum, starrten mit ihren gelben Augen auf sie herab. Und warteten.
Ein raues Gekrächze riss sie aus dem Schlaf, und als sie die Augen aufschlug, sah sie, dass das Licht des frühen Morgens
schon durch ihr vorhangloses Fenster fiel. Ein schwarzes Flügelpaar glitt vorüber, wie eine Sense, die über den Himmel geschwungen wurde. Und dann ein zweites. Sie stieg aus dem Bett und trat ans Fenster.
Die Eiche, in der sie saßen, war nicht tot, wie in ihrem Traum, sondern voll ausgeschlagen in üppigstem Sommergrün. Mindestens zwei Dutzend Krähen hatten sich in ihrer Krone versammelt; wie merkwürdige schwarze Früchte saßen sie im Geäst, krächzten und raschelten mit ihren glänzenden Federn. Sie hatte sie schon früher in diesem Baum gesehen, und sie hatte keinen Zweifel, dass es sich um dieselben Vögel handelte, die sich letzten Sommer an Hilda Chambletts Leiche gütlich getan hatten; dieselben Vögel, die mit ihren scharfen Schnäbeln so lange gehackt und gezerrt hatten, bis von den Nerven- und Sehnensträngen nur noch ledrige Fetzen übrig waren. Und nun waren sie wieder da, begierig auf das nächste Festmahl. Sie wussten, dass Julia sie beobachtete, und starrten mit ihren verstörend intelligenten Augen zurück, als gingen sie davon aus, dass es nur eine Frage der Zeit war.
Sie wandte sich ab und dachte: Ich werde Vorhänge vor dieses Fenster hängen müssen.
In der Küche kochte sie Kaffee und machte sich einen Toast mit Butter und Marmelade. Draußen löste der Morgennebel sich allmählich auf; es versprach ein sonniger Tag zu werden. Ein guter Tag, um noch einen Sack Komposterde zu verteilen und einen weiteren Ballen Torf in das Blumenbeet am Bach einzuarbeiten. Obwohl ihr Rücken vom Verlegen der Badezimmerfliesen am
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