Leichenraub
schnaubte das Pferd in Panik, tänzelte nervös auf der Stelle und schien kurz davor durchzugehen. Einen Augenblick später
entdeckte Rose den Grund für die Unruhe des Tieres: Es war nur ein großer Hund, der zielstrebig quer über den Hof trottete. Ihr Blick folgte ihm über das von Regen und Eis glitzernde Pflaster.
»Miss Connolly.«
Erschrocken drehte Rose sich um und erblickte Schwester Poole. Die Frau hatte sich so lautlos hereingeschlichen, dass Rose sie nicht hatte kommen hören.
»Geben Sie mir das Kind.«
»Aber sie schläft so fest«, protestierte Rose.
»Ihre Schwester kann das Baby unmöglich stillen. Sie ist viel zu schwach. Ich habe mir erlaubt, eine andere Lösung in die Wege zu leiten.«
»Was für eine Lösung?«
»Es ist jemand vom Säuglingsheim da, um sie zu holen. Man wird ihr eine Amme besorgen. Und sie wird ganz gewiss ein gutes Zuhause bekommen.«
Rose starrte die Schwester ungläubig an. »Aber sie ist doch kein Waisenkind! Sie hat eine Mutter!«
»Eine Mutter, die höchstwahrscheinlich nicht mehr lange leben wird.« Schwester Poole streckte die Arme aus, und ihre Hände sahen aus wie abweisende Klauen. »Geben Sie sie mir. Es ist nur zum Besten des Kindes. Sie können ganz bestimmt nicht für sie sorgen.«
»Sie hat auch einen Vater. Ihn haben Sie noch nicht gefragt.«
»Wie hätte ich ihn fragen sollen? Er hat sich ja nicht mal hier sehen lassen.«
»Ist Aurnia damit einverstanden? Lassen Sie mich mit ihr sprechen.«
»Sie ist bewusstlos. Sie kann nichts sagen.«
»Dann werde ich für sie sprechen. Das hier ist meine Nichte, Miss Poole. Sie gehört zu meiner Familie.« Rose drückte das Baby fester an sich. »Ich werde sie nicht irgendwelchen Fremden überlassen.«
Agnes Pooles Miene war starr vor unterdrückter Wut. Einen
gefährlichen Moment lang schien sie im Begriff, Rose das Baby mit Gewalt zu entreißen. Stattdessen machte sie kehrt und rauschte aus dem Krankensaal. Bei jedem Schritt machte ihr Kleid ein knallendes Geräusch. Dann fiel eine Tür ins Schloss.
Draußen im Hof klapperten die Hufe des Pferdes nervös auf dem Pflaster.
Rose trat wieder ans Fenster und beobachtete, wie Agnes Pooles Gestalt sich aus dem Schatten des Hauseingangs löste. Sie steuerte auf den wartenden Einspänner zu und sprach mit der Person auf dem Kutschbock. Kurz darauf ließ der Unbekannte die Peitsche schnalzen, und das Pferd zockelte los. Während die Kutsche zum Tor hinausfuhr, blieb Agnes Poole allein im Hof zurück, ihre Silhouette umrahmt von den nass glänzenden Pflastersteinen.
Roses Blick heftete sich auf das Baby in ihren Armen, und in den Zügen des schlafenden Mädchens sah sie ein kleines, lebendiges Abbild ihrer eigenen geliebten Schwester. Niemand wird dich mir je wegnehmen. Nicht, solange ich atme.
5
Gegenwart
»Danke, dass Sie sich so kurzfristig Zeit für mich genommen haben, Dr. Isles.« Julia nahm im Büro der Rechtsmedizinerin Platz. Sie war direkt aus der Sommerhitze in das kühle Gebäude gekommen, und nun erblickte sie hinter dem Schreibtisch eine Frau, die sich in dieser frostigen Umgebung ganz und gar zu Hause zu fühlen schien. Abgesehen von den gerahmten Blumendrucken an der Wand war Maura Isles’ Büro streng zweckmäßig eingerichtet: überall Akten und Fachbücher, dazu ein Mikroskop und ein Schreibtisch, auf dem peinlichste Ordnung herrschte. Julia rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her; sie kam sich vor, als würde sie selbst durch dieses Mikroskop begutachtet. »Es kommt sicher nicht oft vor, dass jemand mit so einer Bitte an Sie herantritt, aber ich muss es einfach wissen. Sonst finde ich keine Ruhe.«
»Sie sollten sich an Dr. Petrie wenden«, sagte Isles. »Das Skelett ist ein Fall für die forensische Anthropologie.«
»Ich bin nicht wegen des Skeletts hier. Ich habe schon mit Dr. Petrie gesprochen, und sie konnte mir nichts Neues sagen.«
»Und wie kann ich Ihnen dann helfen?«
»Als ich das Haus kaufte, erzählte die Maklerin mir, die Vorbesitzerin sei eine ältere Frau gewesen, die auf dem Grundstück gestorben war. Alle gingen damals von einem natürlichen Tod aus. Aber vor ein paar Tagen erwähnte mein Nachbar, dass es in dem Viertel mehrere Einbrüche gegeben habe. Und letztes Jahr wurde ein Mann gesehen, der die Straße auf und ab fuhr, als ob er die Häuser auskundschaftete. Und jetzt frage ich mich, ob …«
»Ob es doch kein natürlicher Tod war?«, vollendete Dr. Isles ohne Umschweife. »Das ist es, was Sie wissen
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