Leichenraub
Abend zuvor noch immer schmerzte, wollte sie nicht einen einzigen der schönen Tage vergeuden. Die Zeiten im Leben, die wir im Garten verbringen dürfen, sind begrenzt, und wenn ein Sommer einmal vorbei ist, kann nichts ihn wiederbringen. Sie hatte schon zu viele Sommer vergeudet. Aber dieser hier gehört mir.
Draußen schwoll das Krächzen und Flattern zu einer lärmenden Kakophonie an. Sie sah aus dem Fenster und beobachtete,
wie die Krähen plötzlich alle gleichzeitig aufflogen und in alle vier Winde davonflatterten. Dann fiel ihr Blick auf die hinterste Ecke des Gartens, unten am Bach, und sie begriff, warum die Krähen so unvermittelt geflüchtet waren.
Da stand ein Mann an der Grundstücksgrenze. Und starrte zu ihrem Haus herauf.
Sie wich rasch zurück, um nicht gesehen zu werden. Dann schob sie sich ganz langsam wieder ans Fenster heran und spähte hinaus. Der Mann war schlank und dunkelhaarig, er trug Bluejeans und einen braunen Wollpullover gegen die kühle Morgenluft. Nebelschleier stiegen in dünnen Fetzen aus dem Gras auf und schlängelten sich um seine Beine. Setz auch nur einen Fuß auf mein Grundstück, dachte sie, und ich rufe die Polizei.
Er ging zwei Schritte auf ihr Haus zu.
Sie lief zum Tisch und schnappte sich das schnurlose Telefon. Sogleich eilte sie wieder ans Fenster, um nach dem Mann Ausschau zu halten, doch sie konnte ihn nicht mehr sehen. Dann kratzte etwas an ihre Küchentür, und sie erschrak so heftig, dass sie beinahe das Telefon fallen ließ. Sie ist doch abgeschlossen, oder? Ich habe die Tür doch gestern Abend abgeschlossen, oder etwa nicht? Sie wählte die Notrufnummer.
»McCoy!«, rief eine Stimme. »Komm, Junge, geh da weg!«
Als sie erneut einen Blick aus dem Fenster warf, sah sie den Mann urplötzlich hinter einigen hoch aufschießenden Unkrautpflanzen auftauchen. Etwas tappte über ihre Veranda, dann tauchte ein gelber Labrador auf, der quer durch den Garten auf den Mann zulief.
»Notrufzentrale.«
Julia sah auf das Telefon in ihrer Hand hinunter. O Gott, was war sie doch für eine Idiotin. »Entschuldigen Sie«, sagte sie. »Ich habe die Nummer aus Versehen gewählt.«
»Ist alles in Ordnung, Ma’am? Sind Sie sicher?«
»Ja, es ist alles in bester Ordnung. Ich habe aus Versehen die Schnellwahltaste gedrückt. Vielen Dank.« Sie beendete
das Gespräch und sah wieder aus dem Fenster. Der Mann bückte sich gerade, um eine Leine am Halsband des Hundes zu befestigen. Als er sich aufrichtete, fing er Julias Blick auf und winkte ihr zu.
Sie öffnete die Küchentür und trat hinaus in den Garten.
»Tut mir leid!«, rief der Mann. »Ich wollte nicht über Ihr Grundstück gehen, aber er ist mit durchgebrannt. Er glaubt, dass Hilda immer noch hier wohnt.«
»Er war schon mal hier?«
»Allerdings. Sie hatte immer eine Schachtel Hundekuchen im Haus, extra für ihn.« Er lachte. »McCoy vergisst nie, wo er was zu futtern gekriegt hat!«
Sie ging den Hang hinunter auf den Mann zu. Er machte ihr keine Angst mehr. Ein Vergewaltiger oder ein Mörder konnte doch unmöglich so einen netten Hund haben. Der Labrador zerrte an seiner Leine und tänzelte aufgeregt umher, begierig darauf, Julias Bekanntschaft zu machen.
»Sie sind die neue Besitzerin, nehme ich an?«, sagte er.
»Julia Hamill.«
»Tom Page. Ich wohne gleich nebenan.« Er wollte ihr die Hand gegeben, doch im letzten Moment fiel ihm die Plastiktüte ein, die er darin hielt, und er lachte verlegen. »Oh – der Hundebeutel. Ich war gerade dabei, sein Geschäft zu entsorgen.«
Deswegen hat er sich also vorhin kurz ins Gras geduckt, dachte sie. Er hat bloß die Hinterlassenschaft seines Vierbeiners beseitigt.
Der Hund bellte ungeduldig und stellte sich auf die Hinterbeine. Er bettelte regelrecht um Julias Aufmerksamkeit.
»McCoy! Platz, Junge!« Tom zog einmal kurz an der Leine, und der Hund gehorchte widerstrebend.
»McCoy – ungewöhnlicher Name für einen Hund«, meinte sie.
»Nun ja, also … eigentlich heißt er Dr. McCoy.«
»Ah. Star Trek .«
Er sah sie an und lächelte verlegen. »Daran merken Sie,
wie alt ich bin. Ist schon erschreckend, wie viele junge Leute heutzutage noch nie etwas von Dr. McCoy gehört haben. Da komme ich mir immer uralt vor.«
Aber uralt ist er ganz bestimmt nicht, dachte sie. Vielleicht Anfang vierzig. Vom Küchenfenster aus hatte sein Haar pechschwarz gewirkt; jetzt, als sie direkt vor ihm stand, sah sie, dass es schon mit ein paar grauen Strähnen durchsetzt war. Und seine
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