Leichenraub
dunklen Augen, die er im hellen Licht der Morgensonne zusammenkniff, waren von ausgeprägten Lachfältchen flankiert.
»Ich bin froh, dass endlich jemand Hildas Anwesen gekauft hat«, sagte er und blickte zum Haus hinüber. »Es war eine Weile ganz schön einsam dort.«
»Es ist in einem ziemlich schlechten Zustand.«
»Sie war damit schlicht überfordert. Der Garten war zu viel für sie, aber mit ihrem verdammten Besitzerstolz hat sie es einfach nicht über sich gebracht, irgendjemand anders dort arbeiten zu lassen.« Sein Blick fiel auf den kahlen Flecken Erde, wo die Knochen exhumiert worden waren. »Sonst hätten sie dieses Skelett vielleicht schon viel früher gefunden.«
»Sie haben davon gehört.«
»Nicht nur ich, die ganze Nachbarschaft. Vor ein paar Wochen bin ich mal hier vorbeigekommen und habe den Leuten beim Graben zugeschaut. Die sind ja mit einem ganzen Team bei Ihnen angerückt.«
»Ich habe Sie aber nicht gesehen.«
»Ich wollte nicht aufdringlich erscheinen. Aber neugierig war ich schon.« Er sah sie an, und sein Blick war so direkt, dass ihr ein wenig unwohl dabei war, als ob seine Augen die geheimsten Windungen ihres Gehirns erforschen könnten. »Wie gefällt es Ihnen hier?«, fragte er. »Abgesehen von den Skeletten?«
Fröstelnd verschränkte sie die Arme in der kühlen Morgenluft. »Ich weiß nicht.«
»Haben Sie sich noch nicht entschieden?«
»Nun ja, ich liebe Weston, aber die Knochen sind mir doch
ein bisschen unheimlich. Zu wissen, dass sie hier all die Jahre begraben war. Irgendwie gibt mir das so ein Gefühl der …« Sie zuckte mit den Achseln. »Der Verlorenheit, würde ich sagen.« Ihr Blick ging zu der Grabstätte. »Ich wüsste zu gerne, wer sie war.«
»Konnte die Universität Ihnen das nicht sagen?«
»Sie glauben, dass das Grab aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert stammt. Der Schädel der Frau war an zwei Stellen gebrochen, und sie wurde ohne großes Zeremoniell begraben. Einfach in eine Tierhaut gehüllt und in der Erde verscharrt. Als hätte es jemand sehr eilig gehabt, sie verschwinden zu lassen.«
»Eine Leiche mit gebrochenem Schädel und ein hastiges Begräbnis? Das klingt mir aber schwer nach Mord.«
Sie sah ihn an. »Das finde ich auch.«
Eine Weile schwiegen sie beide. Der Nebel hatte sich jetzt fast ganz verzogen, und in den Bäumen zwitscherten die Vögel. Keine Krähen diesmal, sondern Singvögel, die anmutig von Ast zu Ast flatterten. Seltsam, dachte sie, dass die Krähen einfach so verschwunden sind.
»Ist das Ihr Telefon?«, fragte er.
Jetzt hörte sie das Geräusch auch, und sie blickte zum Haus. »Ich sollte wohl besser hingehen.«
»Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen!«, rief er ihr nach, während sie die Stufen zu ihrer Veranda hinaufeilte. Als sie endlich ihre Küche erreicht hatte, war er schon weitergegangen, mit dem sich sträubenden McCoy im Schlepptau. Schon hatte sie seinen Nachnamen wieder vergessen. Und hatte er eigentlich einen Ehering am Finger getragen oder nicht?
Die Anruferin war Vicky. »Na, was macht das Projekt ›Schöner wohnen‹?«, fragte sie.
»Ich habe gestern Abend den Boden im Bad gefliest.« Julia konnte den Blick noch immer nicht vom Garten losreißen, wo sie Toms braunen Pullover jetzt im Schatten der Bäume verschwinden sah. Das muss so eine Art Lieblingspulli von ihm sein, dachte sie. Mit so einem zerschlissenen Teil ließ man
sich nicht in der Öffentlichkeit blicken, wenn man nicht aus irgendeinem Grund sehr daran hing. Irgendwie machte ihn das noch ein bisschen sympathischer. Das und sein Hund.
»… und ich finde wirklich, du solltest wieder mal mit einem Mann ausgehen.«
Schlagartig war Julias Aufmerksamkeit wieder bei Vicky. »Was?«
»Ich weiß, was du von Blind Dates hältst, aber der Typ ist wirklich total nett.«
»Keine Anwälte mehr, Vicky.«
»Sie sind nicht alle wie Richard. Manche ziehen immer noch eine richtige Frau jeder aufgedonnerten Tiffani vor. Apropos Tiffani – ich habe gerade herausgefunden, dass ihr Daddy ein großes Tier bei Morgan Stanley ist. Kein Wunder, dass es da eine rauschende Hochzeitsfeier gibt.«
»Vicky, so genau will ich das alles gar nicht wissen.«
»Ich finde, irgendjemand sollte ihrem Daddy mal stecken, was für einen Loser sich sein Töchterchen da angelacht hat.«
»Ich muss jetzt Schluss machen. Ich komme gerade aus dem Garten und habe total verdreckte Hände. Ich ruf dich später zurück.« Sie legte auf und hatte sofort ein schlechtes Gewissen wegen
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