Leichenraub
ihrer kleinen Notlüge. Aber allein die Erwähnung von Richards Namen hatte einen Schatten auf ihren Tag geworfen, und sie wollte einfach nicht an ihn denken. Da schaufelte sie zehnmal lieber Dünger.
Sie schnappte sich ihren Gartenhut und die Handschuhe, trat vor die Tür und blickte zum Bachbett hinunter. Tom mit dem braunen Pulli war nirgends zu sehen, und sie registrierte einen leisen Anflug von Enttäuschung. Du bist gerade erst von einem Mann sitzen gelassen worden. Bist du so scharf darauf, noch einmal enttäuscht zu werden? Sie holte die Schubkarre und die Schaufel aus dem Schuppen und ging den Hang hinunter zu dem alten Blumenbeet, das sie wieder herzurichten begonnen hatte. Während sie die Karre rumpelnd durchs Gras schob, musste sie daran denken, wie oft die alte
Hilda Chamblett wohl diesen überwucherten Pfad entlanggegangen war. Ob sie einen Hut getragen hatte wie Julia? Ob sie bisweilen innegehalten und aufgeblickt hatte, wenn sie die Vögel singen hörte? Ob ihr auch dieser seltsam verkrümmte Ast in der Krone der Eiche aufgefallen war?
Ob sie an jenem Julitag gewusst hatte, dass es ihr letzter Tag auf Erden war?
An diesem Abend war sie zu erschöpft, um irgendetwas Aufwendigeres zu kochen als ein gegrilltes Käsesandwich und eine Tomatensuppe. Sie aß am Küchentisch, vor sich die Kopien der Zeitungsausschnitte über Hilda Chamblett. Die Artikel waren kurz und berichteten lediglich, dass eine ältere Frau in ihrem Garten tot aufgefunden worden sei und dass die Polizei nicht von einem Verbrechen ausgehe. Mit zweiundneunzig steht man ohnehin schon mit einem Bein im Grab. Kann man sich einen schöneren Tod vorstellen, so wurde eine Nachbarin zitiert, als an einem Sommertag in seinem eigenen Garten zu sterben?
Sie las den Nachruf.
Hilda Chamblett, eine alteingesessene Bürgerin der Stadt Weston, Massachusetts, wurde am 25. Juli in ihrem Garten tot aufgefunden. Die rechtsmedizinische Untersuchung ergab eine »höchstwahrscheinlich natürliche Todesursache«. Die seit zwanzig Jahren verwitwete Mrs. Chamblett war in Gärtnerkreisen wohlbekannt, vor allem als begeisterte Züchterin von Iris und Rosen. Sie hinterlässt einen Cousin, Henry Page aus Islesboro, Maine, ihre Nichte Rachel Surrey aus Roanoke, Virginia, sowie zwei Großnichten und einen Großneffen.
Als das Telefon läutete, fuhr sie so heftig zusammen, dass sie die Seite mit Tomatensuppe bekleckerte. Sicher wieder Vicky, dachte sie, die sich fragt, warum ich sie noch nicht zurückgerufen habe. Sie wollte nicht mit Vicky reden, wollte
nichts hören über die Planungen für Richards aufwendige Hochzeit. Aber wenn sie jetzt nicht abhob, würde Vicky es einfach immer wieder versuchen.
Julia griff nach dem Telefon. »Hallo?«
Eine Männerstimme, heiser und rau vom Alter, ertönte: »Spreche ich mit Julia Hamill?«
»Ja.«
»Sie sind also die Frau, die Hildas Haus gekauft hat.«
Julia runzelte die Stirn. »Wer ist da, bitte?«
»Henry Page. Ich bin Hildas Cousin. Wie ich höre, haben Sie ein paar alte Knochen in ihrem Garten gefunden.«
Julia drehte sich wieder zum Küchentisch um und überflog rasch den Nachruf. Ein Suppenklecks war genau auf der Stelle gelandet, wo die Hinterbliebenen aufgelistet waren. Sie wischte ihn weg und fand den Namen.
… hinterlässt einen Cousin, Henry Page aus Islesboro, Maine …
»Ich interessiere mich sehr für diese Knochen«, sagte er. »Ich gelte so ein bisschen als der Familienchronist, müssen Sie wissen.« Mit verächtlichem Schnauben setzte er hinzu: »Weil sich sonst kein Schwein dafür interessiert.«
»Was können Sie mir über die Knochen sagen?«, fragte sie.
»Gar nichts.«
Und wieso rufen Sie mich dann an?
»Ich habe mich mit der Sache beschäftigt«, fuhr er fort. »Als Hilda starb, hinterließ sie ungefähr dreißig Kartons mit alten Papieren und Büchern. Ich gebe zu, ich habe den Krempel einfach erst mal zur Seite geräumt und das ganze letzte Jahr nicht einen Blick drauf geworfen. Aber dann habe ich von Ihren geheimnisvollen Knochen gehört und mich gefragt, ob sich darüber nicht irgendetwas in diesen Kartons finden ließe.« Er hielt inne. »Interessiert Sie das überhaupt, oder sollte ich lieber den Mund halten und einfach auflegen?«
»Ich höre Ihnen zu.«
»Das ist mehr, als die meisten meiner Verwandten tun. Niemand hat mehr etwas übrig für Geschichte. Immer heißt es nur schnell, schnell, schnell, nur ja nichts verpassen und immer der neuesten Mode
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