Leichenraub
Gruben. Die zweite ist für den Ausschuss – die Leichen, auf die wahrscheinlich niemand Anspruch erhebt.« Edward sah auf ihren Leichnam hinunter, dessen graues Gesicht von den Falten und Narben vieler harter Jahre gezeichnet war. Der linke Arm war irgendwann
gebrochen und schief verheilt. »Ich würde sagen, der hier kommt garantiert aus der zweiten Grube. Irgendein alter Paddy, schätze ich – was meint ihr?«
Dr. Sewall, der Dozent, ging im Sektionssaal auf und ab, vorbei an den Tischen, an denen immer vier junge Männer an einer Leiche arbeiteten. »Ich möchte, dass Sie die Resektion sämtlicher innerer Organe heute abschließen«, wies er sie an. »Sie verderben sehr schnell. Selbst diejenigen unter Ihnen, die glauben, einen starken Magen zu haben, werden den Gestank bald unerträglich finden. Rauchen Sie so viele Zigaretten, wie Sie wollen, schütten Sie sich mit Whiskey voll, aber ich garantiere Ihnen, dass eine Nase voll Eingeweide, die schon eine Woche vor sich hin gefault sind, selbst den Zähesten von Ihnen umwerfen wird.«
Und der Schwächste von uns hat jetzt schon Probleme, dachte Norris, als er in das bleiche, von Rauch eingehüllte Gesicht seines Kommilitonen Charles blickte, der auf der anderen Seite des Tisches stand und hektisch an seiner Zigarre sog.
»Sie haben die Organe in situ gesehen und mit eigenen Augen einige der verborgenen Rädchen dieses wundersamen Mechanismus beobachten können«, sagte Sewall. »In diesem Raum, meine Herren, bringen wir Licht in das Mysterium des Lebens. Wenn Sie Gottes Meisterwerk in seine Einzelteile zerlegen und seine kunstvolle Ausführung erforschen wollen, müssen Sie jedes Organ an seinem angestammten Platz in Augenschein nehmen. Dann werden Sie erkennen, dass jedes einzelne unerlässlich für das Funktionieren des Ganzen ist.« Sewall blieb an Norris’ Tisch stehen, beäugte die Organe im Eimer und hob sie mit bloßen Händen heraus. »Wer von Ihnen hat das Herz und die Lunge reseziert?«, fragte er.
»Das war ich, Sir«, antwortete Norris.
»Saubere Arbeit. Die beste, die ich im ganzen Saal bisher gesehen habe.« Sewall musterte ihn. »Sie haben das schon einmal gemacht, nehme ich an.«
»Auf der Farm, Sir.«
»Schafe?«
»Und Schweine.«
»Ich merke schon, dass Sie mit dem Messer umgehen können.« Sewall wandte sich an Charles. »Ihre Hände sind noch sauber, Mr. Lackaway.«
»Ich … ich dachte, ich lasse die anderen Herren erst mal anfangen.«
»Anfangen? Sie sind ja längst mit dem Thorax fertig und haben bereits das Abdomen eröffnet.« Er sah auf den Leichnam hinunter und rümpfte die Nase. »Nach dem Geruch zu urteilen, ist der hier schon weit fortgeschritten. Er wird verfault sein, ehe Sie überhaupt zum Skalpell gegriffen haben, Mr. Lackaway. Worauf warten Sie noch? Machen Sie sich die Hände schmutzig.«
»Ja, Sir.«
Als Dr. Sewall den Saal verließ, griff Charles widerstrebend nach dem Skalpell. Den Blick starr auf ihren schon halb verfaulten Leichnam gerichtet, zögerte er, die Hand mit dem Messer über den Eingeweiden. Während er noch damit beschäftigt war, seinen ganzen Mut zusammenzunehmen, kam plötzlich ein Stück Lunge über den Tisch geflogen und klatschte ihm an die Brust. Charles stieß einen spitzen Schrei aus, prallte zurück und versuchte hektisch, die blutige Masse abzuwischen.
Edward lachte. »Du hast doch gehört, was Dr. Sewall gesagt hat. Mach dir schön die Hände schmutzig!«
»Um Himmels willen, Edward!«
»Schade, dass du dein Gesicht nicht sehen kannst, Charlie. Man könnte meinen, ich hätte einen Skorpion nach dir geworfen.«
Jetzt, da Dr. Sewall den Saal verlassen hatte, wurden die Studenten übermütig. Eine Flasche Whiskey begann die Runde zu machen. Die Gruppe am Nebentisch setzte ihre Leiche auf und steckte ihr eine brennende Zigarre in den Mund. Der Rauch kringelte an den blicklosen Augen vorbei.
»Das ist widerlich«, sagte Charles. »Ich kann das nicht.« Er legte das Messer hin. »Ich wollte doch nie Arzt werden.«
»Und wann willst du das deinem Onkel beibringen?«, fragte Edward.
Neues Gelächter brandete am anderen Ende des Saals auf, wo der Hut eines Studenten plötzlich auf dem Kopf einer toten Frau gelandet war. Aber Charles’ Blick blieb auf Paddy geheftet, dessen schiefer Arm und verkrümmtes Rückgrat stumme Zeugen eines Lebens voller Qualen waren.
»Komm schon, Charlie«, ermunterte Wendell ihn und hielt ihm ein Skalpell hin. »Wenn du einmal angefangen hast, ist es gar
Weitere Kostenlose Bücher