Leichenraub
einfachen Farmerssohn aus Belmont, einem von Dutzenden neuer Studenten, auch nur Notiz nehmen sollte.
»Kommen Sie doch herein, Mr. Marshall. Und schließen Sie bitte die Tür.«
Mit einem unbehaglichen Gefühl nahm Norris Platz. Grenville entzündete eine Lampe, deren auflodernde Flamme die glänzende Fläche des Schreibtischs und die Bücherregale aus Kirschholz in einen warmen Schein tauchte. Die Silhouette verwandelte sich in ein faszinierendes Gesicht, umrahmt von einem buschigen Backenbart. Obgleich sein Haar dicht wie das eines jungen Mannes war, hatte es sich bereits silbern verfärbt, was seinen ohnehin markanten Zügen eine distinguierte
Autorität verlieh. Er sank in seinen Sessel zurück und fixierte Norris mit seinen dunklen Augen, in denen sich das Licht der Lampe spiegelte.
»Sie waren dabei, dort drüben im Krankenhaus«, begann Grenville. »In der Nacht, als Agnes Poole starb.«
Die unvermittelte Einführung dieses grausigen Themas brachte Norris aus der Fassung, und er konnte nur stumm nicken. Der Mord lag jetzt sechs Tage zurück, und seither kursierten in der Stadt die wildesten Spekulationen darüber, wer – oder was – die Frau getötet haben könnte. Der Daily Advertiser hatte einen geflügelten Dämon beschrieben. Es gab die unvermeidlichen Gerüchte über Papisten, zweifellos in die Welt gesetzt von Wachmann Pratt. Aber das waren nicht die einzigen: Ein Prediger in Salem hatte von dem Bösen gesprochen, das unter den Menschen wandelte, von finsteren Kreaturen und Fremden, die den Teufel anbeteten und nur von den rechtschaffenen Werkzeugen Gottes bekämpft werden konnten. Am Abend zuvor hatte ein betrunkener Mob, angefeuert von solch hanebüchenen Geschichten, einen Mann, der das Pech hatte, italienischer Abstammung zu sein, die ganze Hanover Street hinuntergejagt und ihn gezwungen, in einem Wirtshaus Zuflucht zu suchen.
»Sie sind als Erster auf die Zeugin gestoßen. Das irische Mädchen«, sagte Grenville.
»Ja.«
»Haben Sie sie seit jener Nacht noch einmal gesehen?«
»Nein, Sir.«
»Sie wissen doch, dass die Nachtwache nach ihr sucht.«
»Mr. Pratt sagte es mir. Ich weiß nichts von Miss Connolly.«
»Mr. Pratt hat mir aber etwas anderes zu verstehen gegeben.«
Deswegen also war er gerufen worden. Die Nachtwache wollte, dass Grenville ihm Informationen entlockte.
»Das Mädchen ist seit jener Nacht nicht mehr in ihrer Unterkunft gesehen worden«, sagte Grenville.
»Sie hat gewiss Verwandte in Boston.«
»Nur den Mann ihrer Schwester, einen Schneider namens Tate. Er sagte der Nachtwache, sie sei haltlos und neige dazu, ungeheuerliche Behauptungen aufzustellen. Sie habe sogar ihn unehrenhafter Handlungen gegen sie bezichtigt.«
Norris erinnerte sich daran, wie Rose Connolly es gewagt hatte, die Meinung des hoch angesehenen Dr. Crouch anzuzweifeln, eine erstaunlich kühne Tat für ein Mädchen, dem eine solche Kritik gar nicht zustand. Aber haltlos? Nein, was Norris an jenem Nachmittag im Krankensaal gesehen hatte, war ein Mädchen, das einfach nur auf seinem Standpunkt beharrte, ein Mädchen, das sich schützend vor seine Schwester stellte.
»Ich habe nichts Fragwürdiges in ihrem Verhalten entdecken können«, sagte er.
»Sie hatte einige recht erstaunliche Behauptungen aufgestellt. Über eine Kreatur in einem Cape.«
»Sie sprach von einer Gestalt , Sir. Sie hat nie behauptet, die Erscheinung sei in irgendeiner Weise übernatürlich gewesen. Es war der Daily Advertiser , der sie als ›West End Reaper‹ bezeichnete. Sie war vielleicht verängstigt, aber hysterisch war sie nicht.«
»Sie können Mr. Pratt nicht sagen, wo sie sich aufhalten könnte?«
»Wieso glaubt er, dass ich das kann?«
»Er deutete an, Sie seien möglicherweise besser vertraut mit ihren … Kreisen.«
»Ich verstehe.« Norris’ Gesichtsmuskeln spannten sich an. Die Herren sind also der Ansicht, dass ein Bauernbursche in einem Anzug immer noch ein Bauernbursche ist . »Dürfte ich fragen, wieso er sie plötzlich so dringend finden muss?«
»Sie ist eine Zeugin, und sie ist erst siebzehn Jahre alt. Es gilt auch an ihre Sicherheit zu denken. Und an die Sicherheit des Kindes ihrer Schwester.«
»Ich kann mir kaum vorstellen, dass Mr. Pratt sich auch nur einen Deut um ihr Wohlergehen schert. Gibt es noch einen anderen Grund, weshalb er sie sucht?«
Grenville schwieg einen Moment. Nach einer Weile räumte er ein: »Es gibt da einen Umstand, den Mr. Pratt nicht in der Presse erwähnt sehen
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