Leichenraub
nicht mehr so schlimm. Wir wollen doch diesen armen Kerl nicht verkommen lassen. Er kann uns so viel beibringen.«
»Dass du das sagst, wundert mich nicht, Wendell. Dir macht so etwas ja Spaß.«
»Wir haben das Bauchnetz schon abgezogen. Du kannst jetzt den Dünndarm resezieren.«
Während Charles das dargebotene Skalpell anstarrte, tönte eine spöttische Stimme quer durch den Saal: »Charlie! Fall uns ja nicht wieder in Ohnmacht!«
Charles lief puterrot an und nahm das Skalpell. Mit verbissener Miene begann er zu schneiden. Aber das war alles andere als eine fachgerechte Sektion: Seine Klinge zerfetzte den Darm, und ein so fürchterlicher Gestank breitete sich aus, dass Norris vom Tisch zurückwankte und sich den Arm vors Gesicht hielt, um den Geruch fernzuhalten.
»Halt!«, rief Wendell. Er packte Charles’ Arm, aber sein Freund säbelte einfach weiter. »So wird das doch nichts!«
»Ihr habt gesagt, ich soll schneiden! Ihr habt gesagt, ich soll mir die Hände schmutzig machen. Das ist es, was mein Onkel die ganze Zeit sagt – dass ein Arzt nichts taugt, wenn er nicht bereit ist, sich die Hände schmutzig zu machen!«
»Wir sind nicht dein Onkel«, sagte Wendell. »Wir sind deine Freunde. Und jetzt hör auf. «
Charles warf das Messer weg, doch das Klirren ging in dem Tohuwabohu unter, das die übermütigen jungen Männer veranstalteten. Konfrontiert mit einer solch grausigen Aufgabe,
reagierten sie auf durchaus verständliche Weise: mit Albernheit und frivolen Scherzen.
Norris hob das Messer auf und fragte leise: »Alles in Ordnung, Charles?«
»Mir geht’s gut.« Charles atmete tief aus. »Mir fehlt absolut gar nichts.«
Ein Student, der an der Tür Schmiere stand, zischte warnend: »Sewall kommt zurück!«
Sofort wurde es mucksmäuschenstill im Saal. Die Leichen wurde von Hüten und Zigarren befreit und in ihre ursprüngliche würdevolle Lage zurückgebracht. Als Dr. Sewall den Saal betrat, sah er nur fleißige Studenten und ernste Gesichter. Er ging direkt auf Norris’ Tisch zu, wo er innehielt und auf die zerfetzten Eingeweide starrte.
»Was ist denn das für eine Schweinerei, zum Teufel?« Entsetzt sah er die vier Studenten an. »Wer ist für dieses Gemetzel verantwortlich?«
Charles schien den Tränen nahe. Jeder Tag schien für ihn eine neue Demütigung bereitzuhalten, eine neue Gelegenheit, seine Unfähigkeit unter Beweis zu stellen. Unter Sewalls strengem Blick schien er jetzt dem Zusammenbruch gefährlich nahe.
Edward meldete sich allzu eifrig zu Wort: »Mr. Lackaway hat versucht, den Dünndarm zu resezieren, Sir, und …«
»Es ist meine Schuld«, unterbrach ihn Norris.
Sewall starrte ihn ungläubig an. »Mr. Marshall?«
»Es war – wir haben herumgealbert, Charles und ich. Und – nun ja, es ist ein bisschen aus dem Ruder gelaufen, und wir bitten vielmals um Entschuldigung. Nicht wahr, Charles?«
Sewall betrachtete Norris eine Weile. »Angesichts Ihrer offenkundigen Fähigkeiten als Präparator ist dieses schlechte Benehmen doppelt enttäuschend. Versprechen Sie mir, dass so etwas nicht wieder vorkommt.«
»Das wird es nicht, Sir.«
»Man sagt mir, dass Dr. Grenville Sie zu sprechen wünscht, Mr. Marshall. Er erwartet Sie in seinem Büro.«
»Jetzt? Worum geht es?«
»Ich schlage vor, dass Sie das selbst herausfinden. Nun gehen Sie schon.« Sewall wandte sich an den ganzen Kurs. »Und was den Rest von Ihnen betrifft: Jetzt ist Schluss mit den Albernheiten. An die Arbeit, meine Herren!«
Norris wischte sich die Hände an der Schürze ab und sagte zu seinen Mitstudenten: »Dann müsst ihr drei den alten Paddy wohl ohne mich fertig sezieren.«
»Was will denn Dr. Grenville von dir?«, fragte Wendell.
»Ich habe keine Ahnung«, antwortete Norris.
»Professor Grenville?«
Der Dekan der Medizinischen Hochschule blickte von seinem Schreibtisch auf. Im düsteren Tageslicht, das durch das Fenster hinter ihm fiel, erinnerte die Silhouette seiner drahtigen weißen Mähne an ein Löwenhaupt. Während Norris auf der Schwelle verweilte, spürte er Aldous Grenvilles prüfende Blicke, und er fragte sich, welchem Fehltritt er es wohl zu verdanken hatte, dass er hierherbestellt worden war. Während er den langen Flur entlanggegangen war, hatte er sein Gedächtnis nach irgendeinem Vorfall durchwühlt, der Dr. Grenville auf seinen Namen aufmerksam gemacht haben könnte. Und ein Fehltritt war es gewiss, denn Norris wollte kein anderer Grund einfallen, weshalb dieser Mann von einem
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