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Leichenraub

Leichenraub

Titel: Leichenraub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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mitgenommen. Ich hatte vor, mir in einem Motel in Lincolnville ein Zimmer zu nehmen.«
    »Aber Sie sehen doch, welche Berge von Arbeit hier noch auf uns warten! Ich habe oben ein absolut tadelloses Gästezimmer mit einem ganz atemberaubenden Blick.«
    Sie sah zum Fenster hinaus in den Nebel, der inzwischen noch dichter geworden war, und fragte sich, von welchem Blick er da eigentlich redete.
    »Aber vielleicht meinen Sie ja, es ist die Mühe nicht wert. Offenbar bin ich der Einzige, dem noch etwas an der Vergangenheit liegt. Ich dachte nur, Sie würden vielleicht ähnlich denken, weil Sie schließlich die Knochen angefasst haben.« Er seufzte. »Na ja, was spielt das schon für eine Rolle? Eines Tages werden wir alle sein wie sie. Tot und vergessen.« Er wandte sich ab. »Die letzte Fähre legt um halb fünf ab. Sie sollten sich besser auf den Weg zum Anleger machen, wenn Sie sie noch erwischen wollen.«
    Sie rührte sich nicht. Sie dachte immer noch über das nach, was er gesagt hatte. Über die vergessenen Frauen.
    »Mr. Page?«, sagte sie.
    Er drehte sich zu ihr um, ein gebeugtes altes Männlein, das sich an seinem knotigen Gehstock festhielt.
    »Ich denke, ich werde hier übernachten.«

    Für einen Mann seines Alters war Henry erstaunlich trinkfest. Als sie mit dem Essen fertig waren, hatten sie ihre zweite Flasche Wein bereits zu einem guten Teil geleert, und Julia fing schon fast an, doppelt zu sehen. Die Dunkelheit war hereingebrochen, und im Lampenschein verschwammen alle Konturen im Raum in einem warmen Dunstschleier. Sie hatten an demselben Tisch gegessen, auf dem die Papiere ausgebreitet waren, und neben den Tellern mit den Resten des Brathähnchens lag ein Stapel alter Briefe und Zeitungen, die sie noch durchsehen musste. Aber so, wie sich ihr jetzt schon der Kopf drehte, würde sie das unmöglich heute Abend noch schaffen.
    Henry dagegen zeigte keinerlei Ermüdungserscheinungen. Er schenkte sich Wein nach und trank einen Schluck, während er nach dem nächsten Dokument griff. Es gehörte zu der schier endlosen Sammlung handgeschriebener Korrespondenz, die an Margaret Tate Page adressiert war; Briefe von ihren Kindern und Enkeln und von Ärztekollegen aus aller Welt. Wie konnte Henry sich nach so vielen Gläsern Wein immer noch auf diese verblasste Tinte konzentrieren? Neunundachtzig, das klang uralt, aber Henry drohte sie unter den Tisch zu trinken und sie bei ihrem abendlichen Lesemarathon hoffnungslos abzuhängen.
    Er beäugte sie über den Rand seines Glases hinweg. »Haben Sie schon aufgegeben?«
    »Ich bin erschöpft. Und ein bisschen beschwipst, fürchte ich.«
    »Es ist doch erst zehn Uhr.«
    »Ich habe nicht Ihre Ausdauer.« Sie sah zu, wie er den Brief dicht vor seine Brille hielt und die Augen zusammenkniff, um die verblichene Schrift zu entziffern. »Erzählen Sie mir von Ihrer Cousine Hilda«, forderte sie ihn auf.
    »Sie war Lehrerin, genau wie Sie.« Er drehte den Brief um und fügte abwesend hinzu: »Ist nie dazu gekommen, sich eigene Kinder zuzulegen.«
    »Ich auch nicht.«

    »Mögen Sie keine Kinder?«
    »Doch, sehr sogar.«
    »Hilda konnte sie nicht ausstehen.«
    Julia sank in ihren Stuhl zurück und betrachtete den Stapel Kartons, Hilda Chambletts einzige Hinterlassenschaft. »Deswegen hat sie also allein gelebt. Weil sie niemanden hatte.«
    Henry blickte auf. »Was glauben Sie denn, warum ich allein lebe? Weil ich es so will! Ich will in meinem eigenen Haus bleiben und nicht in irgendeinem Pflegeheim enden.« Er griff nach seinem Glas. »Hilda war genauso.«
    Genauso eigensinnig? Genauso aufbrausend?
    »Sie ist da gestorben, wo sie sterben wollte«, sagte er. »Zu Hause, in ihrem eigenen Garten.«
    »Ich finde es nur so traurig, dass sie tagelang dort gelegen hat, bis jemand sie fand.«
    »Mir dürfte es ähnlich ergehen. Mein Großneffe wird wahrscheinlich meine vergammelte Leiche hier in diesem Sessel finden.«
    »Das ist eine schreckliche Vorstellung, Henry.«
    »Wenn man Wert auf seine Ruhe legt, ist das nur die logische Konsequenz. Sie leben auch allein, da müssen Sie doch wissen, was ich meine.«
    Sie starrte in ihr Glas. »Ich habe es mir nicht so ausgesucht«, sagte sie. »Mein Mann hat mich verlassen.«
    »Warum? Sie scheinen mir doch eine ganz nette junge Frau zu sein.«
    Ganz nett. Ja, da werden mir die Männer in Scharen die Tür einrennen. Seine Bemerkung war so unabsichtlich beleidigend, dass sie einfach lachen musste. Aber mitten in ihrem Lachanfall begannen

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