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Leichenraub

Leichenraub

Titel: Leichenraub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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plötzlich die Tränen zu fließen. Sie beugte sich vor und ließ den Kopf in die Hände sinken, bemüht, ihre Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Warum passierte das gerade jetzt, warum hier, vor diesem Mann, den sie kaum kannte? Nach der Trennung von Richard hatte sie die ersten Monate überhaupt nicht geweint, hatte alle mit ihrem stoischen Gleichmut verblüfft. Jetzt konnte sie anscheinend
die Tränen nicht zurückhalten, obwohl sie so sehr dagegen ankämpfte, dass es sie am ganzen Leib schüttelte. Henry sagte kein Wort und machte keinerlei Anstalten, sie zu trösten. Er studierte sie einfach nur, so wie er diese alten Zeitungen studiert hatte; als sei dieser Gefühlsausbruch ein interessantes neues Phänomen.
    Sie wischte sich die Tränen ab und stand abrupt auf. »Ich räume jetzt den Tisch ab«, sagte sie. »Und dann werde ich wohl zu Bett gehen.« Rasch sammelte sie die Teller ein und wandte sich in Richtung Küche.
    »Julia«, sagte er. »Wie heißt er eigentlich? Ihr Mann, meine ich?«
    »Richard. Und er ist mein Exmann.«
    »Lieben Sie ihn immer noch?«
    »Nein«, sagte sie leise.
    »Und warum zum Teufel weinen Sie dann wegen ihm?«
    Typisch Henry, mit seiner gnadenlosen Logik so direkt auf den Punkt zu kommen. »Weil ich eine Idiotin bin«, sagte sie.
     
    Irgendwo im Haus klingelte ein Telefon.
    Julia hörte Henry an ihrer Zimmertür vorbeischlurfen, begleitet vom Tock-tock seines Gehstocks. Wer immer der Anrufer war, er wusste offenbar, dass Henry besonders lange brauchte, um ans Telefon zu kommen, denn es läutete mehr als ein Dutzend Mal, bis er endlich abhob. Aus der Ferne vernahm sie, wie er sich mit »Hallo?« meldete, und wenige Sekunden später hörte sie ihn sagen: »Ja, sie ist im Moment hier bei mir. Wir sind die Kartons durchgegangen. Um ehrlich zu sein, ich habe mich noch nicht entschieden.«
    Entschieden? Wozu? Mit wem sprach er da?
    Sie lauschte angestrengt auf seine nächsten Worte, doch er hatte die Stimme gesenkt, und sie konnte nur noch ein undeutliches Gemurmel hören. Nach einer Weile verstummte er ganz, und sie hörte nur noch das Meer unter ihrem Fenster und das Ächzen und Knarren im Gebälk des alten Hauses.

    Am nächsten Morgen, bei Licht betrachtet, schien ihr der Anruf absolut nichts Beunruhigendes mehr zu haben.
    Sie wälzte sich aus dem Bett, zog ihre Jeans und ein frisches T-Shirt an und trat ans Fenster. Auch heute konnte von einem atemberaubenden Blick keine Rede sein. Der Nebel schien eher noch dichter als gestern; so undurchdringlich lag er hinter der Scheibe, dass sie das Gefühl hatte, wenn sie die Hand hinausstreckte, würde sie in eine Masse grauer Zuckerwatte einsinken. Jetzt bin ich den ganzen Weg bis nach Maine heraufgefahren, dachte sie, und habe nicht ein einziges Mal das Meer gesehen.
    Ein lautes Klopfen an der Tür ließ sie erschrocken herumfahren.
    »Julia!«, rief Henry. »Sind Sie schon wach?«
    »Ich bin gerade aufgestanden.«
    »Sie müssen sofort nach unten kommen.«
    Sein Ton war so drängend, dass sie gleich zur Tür ging und sie aufriss.
    Er stand im Flur und strahlte vor Begeisterung übers ganze Gesicht. »Ich habe noch einen Brief gefunden.«

12
    1830
     
    Eine Wolke von Zigarrenrauch hing wie ein durchscheinender Schleier über dem Sektionssaal, und der Duft des Tabaks überlagerte dankenswerterweise den Gestank der Verwesung. Auf dem Tisch, an dem Norris arbeitete, lag ein Leichnam mit aufgebrochenem Brustkorb; Herz und Lunge waren bereits entfernt und lagen als übel riechende Masse in einem Eimer. Auch die kühle Luft im Saal konnte den Fäulnisprozess nicht aufhalten, der schon längst eingesetzt hatte, bevor die Leichen aus dem Staat New York eingetroffen waren. Zwei Tage zuvor hatte Norris zugesehen, wie die vierzehn Fässer angeliefert wurden, alle randvoll mit Salzlake.
    »Angeblich müssen wir sie inzwischen aus New York kommen lassen«, meinte Wendell, während er mit seinen drei Kommilitonen in der Bauchhöhle der Leiche herumsäbelte und mit bloßen Händen in die eiskalte Masse von Gedärmen langte.
    »Hier in Boston sterben nun einmal nicht genug Arme«, sagte Edward. »Sie sind einfach so verdammt gesund, weil wir sie ständig verwöhnen und verhätscheln. Und wenn sie dann doch sterben, kommt man nicht an sie heran. In New York buddeln sie die Leichen einfach auf dem Armenfriedhof aus, und niemand stellt irgendwelche Fragen.«
    »Das ist doch nicht möglich«, wunderte sich Charles.
    »Sie haben dort zwei verschiedene

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