Leichenraub
möchte.«
»Was ist das für ein Umstand?«
»Es geht um ein Schmuckstück. Ein Medaillon, das kurze Zeit im Besitz von Miss Connolly war, bevor es den Weg in ein Leihhaus fand.«
»Was hat es mit diesem Medaillon auf sich?«
»Es gehörte ihr nicht. Von Gesetzes wegen hätte es an den Mann ihrer Schwester gehen sollen.«
»Wollen Sie damit sagen, Miss Connolly sei eine Diebin?«
»Nicht ich behaupte das. Sondern Mr. Pratt.«
Norris dachte an Rose, an ihre unbedingte Loyalität gegenüber ihrer Schwester. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie so kriminell veranlagt ist.«
»Welchen Eindruck hatten Sie von ihr?«
»Ein kluges Mädchen. Offen und geradeheraus. Aber keine Diebin.«
Grenville nickte. »Ich werde Mr. Pratt Ihre Meinung übermitteln.«
Norris, der annahm, die Unterredung sei damit beendet, wollte sich schon erheben, als Grenville sagte: »Einen Augenblick noch, Mr. Marshall. Es sei denn, Sie haben noch eine andere Verabredung?«
»Nein, Sir.« Norris ließ sich wieder auf den Stuhl sinken. Er wand sich unbehaglich, während der andere ihn ruhig ansah.
»Sind Sie mit dem bisherigen Verlauf Ihres Studiums zufrieden?«, fragte Grenville.
»Ja, Sir. Sehr sogar.«
»Und mit Dr. Crouch?«
»Er ist ein ausgezeichneter Lehrer. Ich bin dankbar, dass er mich in seinen Kurs aufgenommen hat. An seiner Seite habe ich sehr viel über Geburtshilfe gelernt.«
»Obgleich Sie, wie ich höre, Ihre eigenen, sehr dezidierten Ansichten zu dem Gegenstand haben.«
Norris’ Unbehagen verstärkte sich. Hatte Dr. Crouch sich über ihn beschwert? Musste er sich nun auf die Konsequenzen gefasst machen? »Ich hatte nicht die Absicht, seine Methoden anzuzweifeln«, sagte er. »Ich wollte nur einen Beitrag …«
»Sollte man Methoden nicht anzweifeln, wenn sie nicht funktionieren?«
»Ich hätte ihm nicht widersprechen dürfen. Ich verfüge gewiss nicht über Dr. Crouchs Erfahrung.«
»Nein. Sie verfügen über die Erfahrung eines Farmers.« Norris errötete, und Grenville fügte hinzu: »Sie denken, ich hätte Sie soeben beleidigt.«
»Ich maße mir nicht an, Ihre Absichten zu kennen.«
»Ich wollte Sie keineswegs beleidigen. Ich kenne so manchen klugen Farmersburschen. Und mehr als nur ein paar idiotische Gentlemen. Was ich mit meiner Bemerkung über Farmer meinte, war, dass Sie über praktische Erfahrung verfügen. Sie haben den ganzen Prozess von der Empfängnis bis zur Geburt beobachtet.«
»Aber wie Dr. Crouch mir sehr deutlich zu verstehen gegeben hat, kann man eine Kuh nicht mit einem Menschen vergleichen.«
»Natürlich nicht. Kühe sind viel umgänglichere Wesen. Der Meinung dürfte auch Ihr Vater sein, sonst würde er sich nicht auf einer Farm verstecken.«
Norris sah ihn verblüfft an. »Sie kennen meinen Vater?«
»Nein, aber ich habe von ihm gehört. Er muss stolz auf Sie sein, weil Sie ein so anspruchsvolles Studium absolvieren.«
»Nein, Sir. Er ist gar nicht glücklich über meine Entscheidung.«
»Wie kann das sein?«
»Er wollte, dass sein Sohn Farmer wird wie er. Bücher betrachtet er als Zeitverschwendung. Dass ich überhaupt hier an der Medizinischen Hochschule studieren kann, verdanke ich allein der Großzügigkeit von Dr. Hallowell.«
»Dr. Hallowell aus Belmont? Der Herr, der Ihr Empfehlungsschreiben verfasst hat?«
»Ja, Sir. Es gibt wahrlich keinen gütigeren Mann als ihn. Er und seine Gattin haben mir immer das Gefühl gegeben, in ihrem Haus willkommen zu sein. Er hat mich persönlich in Physik unterrichtet und mich ermuntert, mir Bücher aus seiner eigenen Bibliothek auszuleihen. Jeden Monat, so schien es mir, kamen neue hinzu, und er gewährte mir freien Zugang zu allen – Romane, griechische und römische Geschichte, Gedichtbände von Dryden, Pope und Spenser. Es ist eine außergewöhnliche Sammlung.«
Grenville lächelte. »Und Sie haben guten Gebrauch davon gemacht.«
»Die Bücher waren meine Rettung«, sagte Norris, doch im gleichen Moment war es ihm peinlich, dass er einen so entlarvenden Ausdruck verwendet hatte. Aber tatsächlich beschrieb kein anderes Wort so treffend, was die Bücher für ihn bedeutet hatten an jenen freudlosen Abenden auf der Farm. Er und sein Vater hatten einander nie viel zu sagen gehabt. Wenn sie gesprochen hatten, dann darüber, ob das Heu noch zu nass war oder wie bald die Kühe kalben würden. Nur über das, was sie beide quälte, hatten sie nicht gesprochen.
Und sie würden es nie tun.
»Es ist schade, dass Ihr Vater Sie nicht
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