Leichenraub
erfahren.
Es grüßt dich recht herzlich
Dein
O.W.H.
»Ist Ihnen klar, wer O.W.H. ist?«, fragte Henry. Seine Augen, die von den Brillengläsern vergrößert wurden, glänzten vor Eifer.
»Sie sagten mir am Telefon, es sei Oliver Wendell Holmes.«
»Und Sie wissen doch, wer das war?«
»Ein Richter, nicht wahr? Am Obersten Gerichtshof.«
Henry seufzte entnervt. »Nein, das ist Oliver Wendell Holmes junior , der Sohn! Dieser Brief ist von Wendell senior. Sie müssen doch von ihm gehört haben.«
Julia zog die Stirn kraus. »Er war Schriftsteller, nicht wahr?«
»Das ist alles , was Sie über ihn wissen?«
»Tut mir leid. Ich bin nicht direkt Geschichtslehrerin.«
»Aber Sie sind Lehrerin? Was unterrichten Sie denn?«
»Dritte Klasse Grundschule.«
»Auch eine Grundschullehrerin sollte wissen, dass Oliver Wendell Holmes mehr war als nur eine literarische Persönlichkeit. Ja, er war Dichter und Romancier und Biograf. Daneben war er auch Dozent, Philosoph und eine der einflussreichsten Stimmen im damaligen Boston. Und noch eines war er. Was seinen Beitrag zum Wohl der Menschheit betrifft, war es seine wichtigste Funktion überhaupt.«
»Und die wäre?«
»Er war Arzt. Einer der besten seiner Zeit.«
Sie betrachtete den Brief mit neuem Interesse. »Das ist also ein historisch bedeutendes Dokument.«
»Und die Margaret, an die der Brief adressiert ist – das ist meine Ururgroßmutter, Dr. Margaret Tate Page, geboren 1830. Sie war eine der ersten Ärztinnen in Boston. Es ist ihr Haus, in dem Sie jetzt wohnen. 1880, als ihr Haus gebaut wurde, war sie also fünfzig.«
»Wer ist diese Tante, die er in dem Brief erwähnt?«
»Ich habe keine Ahnung. Über sie weiß ich absolut gar nichts.«
»Gibt es noch mehr Briefe von Holmes?«
»Ich hoffe, wir werden sie hier finden.« Er blickte auf die Kartons, die neben dem Esstisch standen. »Bisher habe ich erst diese sechs durchsucht. Es ist alles durcheinander, keine Spur von Ordnung. Aber hier ist die Geschichte Ihres Hauses,
Ms. Hamill. Das ist alles, was von den Menschen übrig ist, die dort gelebt haben.«
»Er schreibt, er habe einen Artikel beigelegt. Haben Sie den gefunden?«
Henry griff nach einem Zeitungsausschnitt. »Ich glaube, er bezog sich auf das hier.«
Der Ausschnitt war so stark vergilbt, dass sie Mühe hatte, die winzigen Druckbuchstaben im grauen Licht, das durch das Fenster fiel, zu erkennen. Erst als Henry eine Lampe einschaltete, konnte sie die Worte entziffern.
Das Datum war der 28. November 1830.
Mord im West End
als »schockierend und bizarr« beschrieben
Um zehn Uhr abends wurde die Nachtwache zum Massachusetts General Hospital gerufen, nachdem auf der Hintertreppe des Krankenhauses die Leiche der Krankenschwester Miss Agnes Poole in einer großen Blutlache aufgefunden worden war. Laut Aussage von Officer Pratt von der Wache ließen ihre Verletzungen keinerlei Zweifel daran, dass es sich um einen Mordanschlag der brutalsten Art handle, höchstwahrscheinlich ausgeführt mit einem großen Schneidewerkzeug wie etwa einem Schlachtermesser. Die Identität der einzigen Zeugin wurde dem Verfasser dieser Zeilen aus Sorge um ihre Sicherheit nicht mitgeteilt, doch Mr. Pratt bestätigt, dass es sich um eine junge Frau handle, die den Angreifer wie folgt beschrieb: »In einen schwarzen Umhang gehüllt wie der Schnitter Tod, mit den Schwingen eines Raubvogels.«
»Dieser Mord passierte in Boston«, sagte Julia.
»Nur eine halbe Tagesreise per Kutsche von Ihrem Haus in Weston entfernt. Und das Mordopfer war eine Frau.«
»Ich sehe keine Verbindung zu meinem Haus.«
»Oliver Wendell Holmes könnte die Verbindung sein. Er schreibt an Margaret, die damals in Ihrem Haus wohnte. Er
macht rätselhafte Andeutungen über ihre Tante und über einen Mörder, der als der West End Reaper bekannt war. Irgendwie wird Holmes in diesen Mordfall hineingezogen – so weit, dass er sich fünfzig Jahre später genötigt sieht, Margaret in einem Brief davon zu berichten. Warum? Was war dieses mysteriöse Geheimnis, von dem sie nie erfahren sollte?«
Das ferne Dröhnen eines Nebelhorns ließ Julia aufmerken. »Ich wünschte, ich müsste nicht die letzte Fähre erwischen. Ich würde wirklich gerne die Antwort herausfinden.«
»Dann bleiben Sie doch einfach noch eine Weile. Warum übernachten Sie nicht hier? Ich habe Ihre Reisetasche vor meiner Haustür stehen sehen.«
»Ich wollte sie nicht im Auto lassen, deshalb habe ich sie
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