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Leichenraub

Leichenraub

Titel: Leichenraub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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Krankenstation an jenem Tag. Sie legte einen völligen Mangel an Respekt vor Dr. Crouch an den Tag.«
    »Das macht sie noch nicht zur Diebin.«
    »Es macht sie zu einem undankbaren kleinen Luder. Was genauso schlimm ist.« Edward warf eine leere Austernschale auf den Teller. »Lasst es euch gesagt sein, Herrschaften! Wir werden noch mehr von Rose Connolly hören.«
     
    An diesem Abend trank Norris zu viel. Er spürte die Folgen, als er am Fluss entlang heimwärts wankte, den Bauch voll mit Austern, die Wangen gerötet vom Brandy. Es war ein wahres Festmahl gewesen, das Beste, was er seit seiner Ankunft in
Boston genossen hatte. So viele Austern – er hätte gar nicht gedacht, dass er solche Mengen verdrücken könnte! Aber trotz der wärmenden Wirkung des Alkohols fror er in dem eiskalten Wind, der vom Charles River her wehte, bis auf die Knochen. Er dachte an seine drei Kommilitonen, die jetzt auf dem Weg zu ihren eigenen, weit luxuriöseren Wohnungen waren, und er stellte sich das lustig flackernde Kaminfeuer und das behagliche Zimmer vor, das auf jeden von ihnen wartete.
    Er blieb mit der Schuhspitze an einem unebenen Pflasterstein hängen, strauchelte und konnte sich erst im letzten Moment fangen. Benebelt vom Alkohol, stand er wankend im Wind und blickte über den Fluss hinweg. Im Norden, am anderen Ende der Prison Point Bridge, konnte er den schwachen Lichtschein des staatlichen Zuchthauses ausmachen. Im Westen fiel sein Blick über das Wasser auf die erleuchteten Fenster des Gefängnisses am Lechmore Point. Das war ja wirklich eine erhebende Aussicht – Gefängnisse, wohin man schaute. Und sie erinnerten ihn daran, wie tief ein Mensch fallen konnte. Vom begüterten Gentleman zum einfachen Handwerker, dachte er, dafür genügt eine einzige geschäftliche Fehlentscheidung oder eine Pechsträhne beim Kartenspiel. Wenn die Villa und die Kutsche einmal verloren sind, findest du dich schell als schlichter Barbier oder Stellmacher wieder. Noch eine Stufe tiefer, noch mehr drückende Schulden, und du läufst in Lumpen herum und verkaufst Streichhölzer auf der Straße oder fegst für ein paar Pennys Staub. Noch eine Stufe tiefer, und schon hockst du fröstelnd in einer Zelle am Lechmore Point oder starrst durch die Gitterstäbe in Charlestown.
    Und wenn du dort angelangt bist, kannst du nur noch eine Stufe tiefer fallen – nämlich ins Grab.
    O ja, es war eine düstere Aussicht, aber es war auch das, was seinen Ehrgeiz anfachte. Weder die verlockende Vorstellung, sich jeden Abend an Austern satt essen zu können, noch eine Vorliebe für feine Kalbslederschuhe und Samtkragen
waren es, die ihn antrieben. Nein, es war jener Blick in die andere Richtung, über den Rand des Abgrunds, in den er jederzeit zu stürzen drohte.
    Ich muss lernen, dachte er. Er bleibt mir noch etwas Zeit heute Abend, und ich bin nicht so betrunken, dass ich nicht noch ein weiteres Kapitel in meinem Wistar lesen, mir nicht noch ein paar neue Fakten einprägen könnte.
    Doch als er die enge Stiege zu seiner eiskalten Dachkammer erklommen hatte, war er zu erschöpft, um das Lehrbuch, das auf dem Tisch am Fenster lag, auch nur aufzuschlagen. Um Kerzen zu sparen, tappte er im Dunkeln umher. Besser kein Wachs vergeuden und gleich ins Bett gehen, um morgen zeitig aufzustehen und sich mit frischem Kopf bei Tageslicht ans Lernen zu machen. Im schwachen Schein, der durchs Fenster fiel, zog er sich aus. Während er seine Krawatte aufband und die Weste aufknöpfte, blickte er auf den Krankenhausanger hinaus. In der Ferne, jenseits der dunklen Grünfläche, konnte er das Licht in den Fenstern des Hospitals schimmern sehen. Er stellte sich die düsteren Krankensäle vor, die vom Husten der Patienten widerhallten, und die langen Reihen von Betten, in denen sie schliefen. So viele Jahre des Studiums lagen noch vor ihm, und doch hatte er nie daran gezweifelt, dass seine Bestimmung ihn hierhergeführt hatte. Dass dieser Augenblick, hier in seiner kalten Dachkammer, ein Teil jener Reise war, zu der er vor Jahren als kleiner Junge aufgebrochen war: damals, als er zum ersten Mal seinem Vater beim Aufschneiden eines geschlachtetes Schweins zugesehen hatte. Als er das noch zuckende Herz im offenen Brustkorb des Tieres erblickt hatte. Er hatte die Hand an seine eigene Brust gedrückt, hatte das Pochen seines eigenen Herzens gespürt und gedacht: Wir sind alle gleich. Ob Schwein oder Rind oder Mensch – die Maschine ist die gleiche. Wenn ich nur erst verstehe, was

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