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Leichenraub

Leichenraub

Titel: Leichenraub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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das Feuer lodern, was die Räder laufen lässt, dann werde ich auch wissen, wie ich die Maschine in Gang halten, wie man den Tod überlisten kann.
    Er streifte seine Hosenträger ab, zog die Hose aus und legte
sie sorgfältig über den Stuhl. Dann schlüpfte er fröstelnd unter die Decke. Trotz seines vollen Magens und obwohl sein Kopf sich von dem Brandy immer noch drehte, schlief er fast augenblicklich ein.
    Und wurde prompt von einem Klopfen an der Tür wieder geweckt.
    »Mr. Marshall? Mr. Marshall, sind Sie da?«
    Norris wälzte sich aus dem Bett, wankte benommen zur Tür und öffnete sie. Vor ihm stand der ältliche Hausmeister des Krankenhauses. Eine flackernde Laterne tauchte sein Gesicht in einen unheimlichen Schein.
    »Sie werden gebraucht, drüben im Krankenhaus«, sagte der Alte.
    »Was ist passiert?«
    »Bei der Canal Bridge ist eine Kutsche umgekippt. Sie bringen die Verletzten zu uns, und wir können Schwester Robinson nirgendwo finden. Sie haben schon nach anderen Ärzten geschickt, aber ich dachte mir, wo Sie doch so nahe beim Krankenhaus wohnen, hole ich Sie am besten auch gleich her. Besser ein Medizinstudent als gar nichts.«
    »Ja, gewiss«, erwiderte Norris, ohne auf die unbeabsichtigte Kränkung einzugehen. »Ich bin gleich da.«
    Er zog sich im Dunkeln an, tastete blind nach Hose, Stiefeln und Weste. Auf den guten Rock verzichtete er. Wenn es blutig zuginge, würde er ihn ohnehin ausziehen müssen, um ihn nicht zu ruinieren. Er schlüpfte in einen Mantel, um sich vor der Kälte zu schützen, tastete sich durch das düstere Treppenhaus nach unten und trat hinaus in die Nacht. Der Wind wehte von Westen her, beladen mit den üblen Gerüchen des Flusses. Norris ging quer über die Wiese, und schon bald waren seine Hosenbeine klatschnass vom Gras. Sein Herz pochte in banger Vorahnung. Eine umgekippte Kutsche, dachte er. Verletzungen aller Art. Würde er wissen, was zu tun war? Der Anblick von Blut schreckte ihn nicht; in der Schlachtkammer zu Hause auf der Farm hatte er reichlich Gelegenheit gehabt, sich damit vertraut zu machen. Was
er fürchtete, war seine eigene Unwissenheit. So sehr war er in Gedanken schon bei der Krise, die ihn erwartete, dass er zunächst nicht begriff, was er da hörte. Aber nach ein paar Schritten hörte er es wieder, und er blieb stehen.
    Es war das Stöhnen einer Frau, und es kam vom Flussufer.
    Schmerzenslaute – oder nur eine Hure, die einen Freier bediente? Schon mehr als einmal war er des Nachts Zeuge solcher Szenen geworden, hatte das Wimmern und Stöhnen heimlicher Lust belauscht. Aber jetzt war nicht die Zeit, hinter Huren herzuspionieren; das Krankenhaus wartete auf ihn.
    Dann drang der Laut erneut an sein Ohr, und er hielt inne. Das ist kein Luststöhnen.
    Er lief hinunter zum Uferpfad und rief: »Hallo? Wer ist da?« Als er den Blick senkte, sah er etwas Dunkles dort liegen, nahe der Stelle, wo die Wellen ans Ufer schlugen. Ein menschlicher Körper?
    Er kletterte über die Felsen hinunter. Sogleich versanken seine Schuhe in schwarzem Schlamm, der an den Sohlen saugte, und die feuchte Kälte kroch in das rissige, spröde Leder. Während er auf das Wasser zustapfte, begann sein Herz plötzlich schneller zu schlagen, und sein Atem ging stoßweise. Es war ein menschlicher Körper. In der Dunkelheit konnte er gerade eben die Gestalt einer Frau ausmachen. Sie lag auf dem Rücken, ihre Röcke von der Hüfte abwärts ins Wasser eingetaucht. Mit vor Kälte und Panik tauben Händen packte er sie unter den Armen und zerrte sie die Uferböschung hinauf, bis sie ganz auf dem Trockenen war. Als er es geschafft hatte, rang er vor Anstrengung nach Luft, und seine Hose war tropfnass. Er kauerte sich neben die Frau und tastete ihre Brust nach einem Herzschlag ab, nach Atembewegungen, irgendeinem Lebenszeichen.
    Eine warme Flüssigkeit umspülte seine Hand. So unerwartet war die Empfindung, dass er zuerst nicht wahrhaben wollte, was sein eigener Tastsinn ihm sagte. Dann blickte er hinunter und sah das ölige Glitzern des Bluts auf seiner Handfläche.

    Hinter ihm kullerte ein Kiesel über die Steine. Er fuhr herum, und ein eisiger Schauer durchfuhr ihn.
    Die Kreatur stand über ihm auf dem Uferdamm. Ihr schwarzes Cape flatterte wie gewaltige Schwingen im Wind. Unter der Kapuze schimmerte das knöcherne Weiß eines Totenkopfs, und die leeren Augenhöhlen starrten ihn an, als hätten sie in ihm ihr nächstes Opfer erkannt, die nächste Seele, die unter der Sense des Schnitters

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