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Leichenraub

Leichenraub

Titel: Leichenraub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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fallen musste.
    So starr vor Angst war Norris, dass er nicht hätte fliehen können, selbst wenn das Wesen sich auf ihn gestürzt hätte, selbst wenn in diesem Moment die Sense zischend durch die Luft auf ihn herabgesaust wäre.
    Und dann war die Kreatur urplötzlich verschwunden, und Norris sah nur noch den Nachthimmel mit dem Mond, der durch ein feines Gespinst von Wolken schimmerte.
    Das Licht einer Laterne erhellte den Uferpfad. »Hallo?«, rief der Hausmeister des Krankenhauses. »Wer ist da unten?«
    Norris, dem die Panik noch die Kehle zuschnürte, brachte nur ein ersticktes »Hier!« hervor. Und dann, lauter: »Hilfe. Ich brauche Hilfe!«
    Der Hausmeister kletterte die schlammige Böschung hinunter, in der Hand die schwankende Laterne. Entsetzt hielt er inne, als das Licht auf die Leiche zu seinen Füßen fiel. Auf das Gesicht von Mary Robinson. Dann hob er den Blick zu Norris, und der Ausdruck in seinem Gesicht war unverkennbar.
    Es war Angst.

14
    Norris starrte auf seine Hände. Die Schicht von getrocknetem Blut, die sie bedeckte, bekam schon Risse und blätterte ab. Er war gerufen worden, um bei einem Notfall zu helfen; stattdessen hatte er nur mit noch mehr Blut und Verwirrung das allgemeine Chaos vergrößert. Durch die geschlossene Tür hörte er die durchdringenden Schmerzensschreie eines Mannes, und er fragte sich, welche Gräuel das Messer des Chirurgen wohl in diesem Moment an dieser unglücklichen Seele verübte.
    Nicht schlimmer als die Gräuel, die an Mary Robinson verübt worden waren.
    Erst als er sie ins Haus getragen und bei Licht betrachtet hatte, war ihm das ganze Ausmaß ihrer grässlichen Verletzungen aufgegangen. Er hatte den bluttriefenden Körper in die Eingangshalle gebracht, wo eine schockierte Schwester ihn nur stumm in den Operationssaal gewiesen hatte. Aber als er Mary auf dem Tisch abgelegt hatte, hatte er schon gewusst, dass ihr kein Chirurg mehr würde helfen können.
    »Wie gut kannten Sie Mary Robinson, Mr. Marshall?«
    Norris blickte von seinen blutverkrusteten Händen auf und sah Mr. Pratt von der Nachtwache an. Hinter Pratt standen Constable Lyons und Dr. Aldous Grenville, die es vorgezogen hatten, während der Befragung zu schweigen. Sie standen ein wenig abseits im Dunkeln, außerhalb des Lichtkegels der Lampe.
    »Sie war Krankenschwester. Ich hatte sie natürlich schon einmal gesehen.«
    »Aber haben Sie sie gekannt? Hatten Sie irgendeine Beziehung zu ihr außerhalb Ihrer Tätigkeit am Krankenhaus?«
    »Nein.«

    »Überhaupt keine?«
    »Ich bin mit dem Studium der Medizin beschäftigt, Mr. Pratt. Daneben bleibt mir nur wenig Zeit.«
    »Sie wohnen in Sichtweite des Krankenhauses. Ihre Unterkunft befindet sich direkt an der Grenze dieses Grundstücks, und Miss Robinson wohnte nur wenige Schritte von diesem Gebäude hier entfernt. Sie mussten nur aus der Haustür treten, um ihr zu begegnen.«
    »Das wird man wohl kaum als eine Beziehung bezeichnen können.« Norris blickte wieder auf seine Hände. Das wird mein intimster Kontakt mit der armen Mary bleiben, dachte er. Dass ihr Blut an meiner Haut klebt.
    Mr. Pratt wandte sich zu Dr. Grenville um. »Sie haben den Leichnam untersucht, Sir?«
    »Das habe ich. Und ich möchte, dass Dr. Sewall ihn ebenfalls untersucht.«
    »Aber können Sie eine Meinung äußern?«
    Norris sagte leise: »Es ist derselbe Mörder. Dasselbe Muster. Das wissen Sie doch sicherlich schon, Mr. Pratt?« Er sah auf. »Zwei Schnitte. Einer quer über den Bauch. Dann wird die Klinge gedreht und der Leib von unten nach oben bis zum Brustbein aufgeschlitzt. In der Form eines Kreuzes.«
    »Aber diesmal, Mr. Marshall«, warf Constable Lyons ein, »ist der Täter noch einen Schritt weiter gegangen.«
    Norris sah den Hauptmann der Nachtwache an. Zwar war er Constable Lyons noch nie zuvor begegnet, doch er kannte den Ruf des Mannes. Anders als der aufgeblasene Mr. Pratt war Constable Lyons ein leiser, zurückhaltender Mensch, den man leicht übersehen konnte. In der letzten Stunde hatte er seinem Untergebenen Pratt die Leitung der Ermittlungen in vollem Umfang überlassen. Jetzt trat Lyons ins Licht, und Norris erblickte einen Herrn von gedrungener Gestalt, etwa fünfzig Jahre alt, mit sauber gestutztem Bart und einer Brille.
    »Ihr fehlt die Zunge«, sagte er.
    Wachmann Pratt wandte sich an Grenville. »Der Täter hat sie herausgeschnitten?«

    Grenville nickte. »Es dürfte keine allzu schwierige Operation gewesen sein. Alles, was man dazu braucht, ist ein

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