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Leichenraub

Leichenraub

Titel: Leichenraub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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das Kissen nieder. Drück fester zu!«
    Die schiere Panik hatte dem Opfer übermenschliche Kräfte verliehen. Der Mann griff nach Jacks Armen und brachte ihm mit den Fingernägeln blutige Striemen bei. Herrgott noch mal, wie lange wollte er sich denn noch Zeit lassen mit dem Sterben? Wieso konnte er sich nicht einfach in sein Schicksal ergeben und ihnen die ganze Mühe ersparen? Ein Fingernagel kratzte über Jacks Hand. Er schrie vor Schmerz auf und warf sich mit seinem ganzen Gewicht auf das Kissen, aber noch immer wehrte der Mann sich. Verdammt noch mal, nun stirb schon!
    Jack hievte sich auf die Brust des Mannes und setzte sich auf seine Rippen. Jetzt ritten sie ihn beide, Fanny und Jack, sie auf dem Becken, Jack auf dem Brustkorb. Sie waren beide kräftig gebaut, und mit ihrem vereinten Gewicht gelang es ihnen endlich, seinen Widerstand zu brechen. Nur seine Füße bewegten sich jetzt noch; mit den Fersen schlug er einen verzweifelten Trommelwirbel auf den Dielen. Immer noch hielt er Jacks Arme, doch seine Kraft verließ ihn, und seine Bewegungen wurden schwächer. Jetzt wurde auch das Trommeln der Füße langsamer, bis die Stiefel nur noch ganz schwach
auf den Boden schlugen. Jack spürte, wie der Brustkorb unter ihm ein letztes Mal erzitterte. Dann erschlafften die Arme und fielen zur Seite.
    Erst nach einer Weile wagte Jack es, das Kissen wegzunehmen. Er starrte auf das fleckige Gesicht hinunter, die Abdrücke des groben Stoffs auf der Haut. Dann zog er dem Mann den speichelgetränkten Lumpen aus dem Mund und warf ihn in die Ecke, wo er mit einem feuchten Klatschen landete.
    »So, das wäre erledigt«, sagte Fanny. Sie rappelte sich schwer atmend auf, ihr Haar völlig zerzaust.
    »Wir müssen ihn ausziehen.«
    Sie gingen gemeinsam zu Werke, streiften ihm Jacke und Hemd vom Leib, Stiefel und Hosen, alles zu zerschlissen und verdreckt, um es zu behalten. Wozu das Risiko eingehen, mit den Sachen des Toten erwischt zu werden? Dennoch durchsuchte Fanny noch die Taschen und schnaubte entrüstet, als sie eine Handvoll Münzen zum Vorschein brachte.
    »Sieh an! Er hatte also doch Geld! Hat sich den ganzen Abend von mir freihalten lassen und keinen Ton gesagt!« Sie drehte sich um und warf die Kleider des Mannes in den Kamin. »Wenn er nicht schon tot wäre, würde ich …«
    Es klopfte an der Tür, und sie erstarrten beide. Wechselten einen Blick.
    »Geh nicht hin!«, flüsterte Jack.
    Wieder klopfte es, lauter und nachdrücklicher. »Ich will was zu trinken!«, ertönte eine lallende Stimme. »Aufmachen!«
    Fanny schrie durch die Tür zurück: »Wir haben schon geschlossen!«
    »Wie könnt ihr schon geschlossen haben?«
    »Wenn ich’s dir doch sage. Geh woanders hin!«
    Sie hörten, wie der Mann noch ein letztes Mal verärgert mit der Faust an die Tür schlug. Dann torkelte er weiter, zweifellos in Richtung Mermaid, und seine Flüche verhallten in der Nacht.
    »Schaffen wir ihn auf den Wagen«, sagte Jack. Er packte den nackten Mann unter den Armen und erschrak sogleich
über die ungewohnte Wärme eines Körpers, der erst wenige Minuten tot war. Doch die kalte Nacht würde das sehr bald beheben. Schon verließen die Läuse ihren Wirt; in Scharen krabbelten sie durch das wirre Haar und sprangen von der Kopfhaut. Als er und Fanny den Toten durch das Hinterzimmer schleiften, sah Jack die kleinen schwarzen Punkte auf seine Arme springen, und er musste sich beherrschen, um nicht auf der Stelle die Leiche fallen zu lassen und nach den blutgierigen Insekten zu schlagen.
    Draußen im Hof wuchteten sie den Leichnam auf den Rollwagen und ließen ihn dort unbedeckt liegen, während Jack das Pferd anspannte. Eine noch warme Leiche abliefern, das ging nun wirklich nicht. Obwohl es wahrscheinlich keinen Unterschied machen würde, denn Dr. Sewall hatte noch nie viele Fragen gestellt.
    Und auch diesmal stellte er keine. Nachdem Jack die Leiche auf Sewalls Tisch abgeladen hatte, trat er nervös von einem Fuß auf den anderen, während der Anatom die Plane zurückschlug. Im ersten Moment sagte Sewall gar nichts, obwohl ihm doch auffallen musste, wie außergewöhnlich frisch dieser Leichnam war. Mit einer Lampe inspizierte er aus nächster Nähe die Haut, bewegte die Gelenke und blickte prüfend in den Mund. Keine blauen Flecken, dachte Jack. Keine Wunden. Einfach nur eine arme, unglückliche Seele, mitten auf der Straße tot zusammengebrochen, wo Jack ihn dann zufällig gefunden hatte. Das war die Geschichte. Doch dann beobachtete er

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