Leichenroulette - Roman
zugetraut hätte. Danach befragt, meinte er, es sei halt durchschnittlich, und versprach, es nachzureichen. Ich wurde zur Probe angestellt. So kam es, dass ich wie die meisten meiner Mitschülerinnen nach Wien übersiedelte und ein kleines Zimmer in Untermiete bezog.
Kapitel 3
3
Die mir kaum bekannte Großstadt enttäuschte mich. Dunkle, schmutzige graue Fassaden öder Mietshäuser entlang düsterer, abends schlecht beleuchteter Straßen. Ein morbider Hauch hing über der in zahllosen Liedern besungenen Metropole, in der man gern über den Tod sprach. Wien entpuppte sich als überaus stille Stadt, voll von Weltschmerz und elegischer Lustigkeit, mit pessimistischen, geradezu von Selbsthass erfüllten Menschen. Man »raunzte«, beklagte die stets schrecklichen Zustände und bedauerte sich zutiefst. Doch Vorsicht! Stimmte ein Fremder, und sei es auch nur in mildester Form, in die düster-schwarze Kritik ein, empfand man dies als unerhörtes Sakrileg und wies ihn scharf zurecht: »Sie, was erlauben Sie sich? Wo san ma denn?«
Allgemeines Lob wurde nur der Wiener Luft und dem Wiener Wasser zuteil. So begrüßte man den ständi gen Kopfschmerzen verursachenden Westwind: »Gott sei Dank, er bringt uns gute Luft aus dem Wienerwald.« Auch von der Qualität des Trinkwassers schwärmte man in höchsten Tönen: »Ah, das Wiener Hochquellen wasser, kommt hundert Kilometer von unsern Haus bergen, der Rax und dem Schneeberg. Woanders tät man das in Flaschen füllen und verkaufen.«
Erst allmählich erschloss sich mir der Charme der Wienerstadt, schätzte ich das »goldene Wienerherz« mit seiner sprichwörtlichen Gemütlichkeit und noch mehr den herben »Schmäh«, mit dem man sich das Leben erleichterte. Ich lernte ihn kennen, als in meiner Gasse die Straßenmarkierung erneuert wurde. Ich roch die weiße Farbe, empfand sie als angenehm und schnupperte nochmals. Einer der Arbeiter sah meine Miene und meinte scherzhaft: »Soll’n ma Ihna sogn, wo ma morgen san?« Und als mich ein Schaffner in der Straßenbahn warnte: »Haltn’s Ihna an, Fräulein, mir fahrn ums Eck!«, verfiel ich, wie viele »Zuagraste«, der Stadt mit den vielen Facetten und der wunderschönen Umgebung vollkommen. Bald antwortete ich auf die oft gestellte Frage: »Sag, möchst du woanders leben?« mit dem Brustton der Überzeugung: »Na, nirgends!«, um anschließend die unhaltbaren Übelstände meiner Wahlheimat zu beklagen.
Auch mein ungewohntes Dasein als Arbeitssklavin machte mir sehr zu schaffen. Jeden Tag trottete ich morgens kurz vor neun Uhr in die Filiale der Commerzbank in der Währinger Straße. Eine Zeit lang schien mir der Posten, den ich dem Onkel Rudi verdankte, sogar erstrebenswert. »Und du schiebst eine ruhige Kugel«, meinte meine Mutter. Zu ruhig, wie es sich bald herausstellte. Meistens versah ich öden Schalterdienst. Nie war es aufregend, die oft unhöf lichen Kunden beim Ausfüllen ihrer Geldüberwei sungen zu beraten, ihnen die Bewegungen ihres Konto stands zu erklären und mit ihnen, die sich, aufgehetzt von den Medien, überaus klug und gewieft dünkten, über marginale Zinserhöhungen ihrer Spareinlagen zu feilschen.
Auf meinem Konto traf jeden Monat ein bescheidenes Gehalt samt Bonus ein – je nachdem, wie die undurchschaubaren Geschäfte des Geldinstituts liefen, das bereits mehrmals den Eigentümer gewechselt hatte. Angesichts der riesigen Summen, die jeden Tag druckfrisch, gebündelt und mit Schlaufen versehen aus der Nationalbank geliefert wurden und an den Kassen die Besitzer wechselten, schien mir das ein Affront. Millionen, täglich zum Greifen nah! Und ich, abgespeist mit ein paar mickrigen Scheinchen! Wenn nichts zu tun war, lehnte ich gelangweilt hinter meinem Pult und brachte Ordnung in meine Formulare. Meist jedoch stierte ich ins Leere. »Ah, das Fräulein Meier träumt schon wieder. Vielleicht von einem Märchenprinzen? Jung müsste man halt sein«, seufzte der gutmütige Herr Loidolt, der pedantische Hüter des Kassenschalters. Welche Ahnungslosigkeit! Der biedere Mann, der, wie er oft klagte, unter hohem Blutdruck litt, ahnte nichts von der gefährlichen Aufregung, die ihm bevorstand. Plante ich doch einen kleinen, aber feinen Überfall. Bislang hatten Geldräuber unsere Bank gemieden, sie geradezu verschmäht, obwohl sie an einer belebten Verkehrsader lag und ihr auffälliges Glas-Entree verlockend ins Auge sprang. Andere, weniger attraktive Filialen der Commerzbank waren, wie ich hörte, nicht nur
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