Leichenroulette - Roman
Peter, wie er genannt wurde, war in unserer Kleinstadt berüchtigt. Er schlug kleinere Kinder und nahm ihnen, wenn er sie im Sommer genüsslich schleckend auf der Straße antraf, die Eistüten weg. Er entwendete Spielzeug, verscherbelte es und hatte so immer Geld. Ich hasste den Sohn einer alleinstehenden Gemüsehändlerin, die ihn maßlos verwöhnte, nicht nur deshalb, weil er sich ein Vergnügen daraus machte, Tiere zu quälen. Ich fürchtete ihn vor allem als Chef einer rivalisierenden Bande, mit der er den Kirchenplatz beherrschte und mich mitsamt meinen »Vasallen« oftmals vertrieb und terrorisierte.
Im Schutze meiner Anhänger drohte mir keine Gefahr, ja, da ließ ich mich sogar zu Schmährufen hinreißen. »Hei, blöder Schwabbler!«, schrie ich forsch, wenn ich Peter von Weitem kommen sah. »Trau di her, feiger Fettwanst!« Als ich jedoch eines Tages mit Mizzi allein unterwegs war, verstellte er mir den Weg. Wortlos gab er mir, bevor er weiterschlenderte, ein paar Ohrfeigen, die mir auf den Wangen brannten. Und dies vor den Augen meiner ungläubig starrenden Freundin! Welche Schande! Welcher Gesichtsverlust! Ich merkte sofort, wie ich in ihrer Achtung sank. Und sollte bald auch merken, dass sie den Vorfall weitererzählte.
Am Ende dieses beschämenden Tages weinte ich mich voll ohnmächtigem Zorn in den Schlaf, und auch an den folgenden Abenden fand ich vor Gram keine Ruhe. In der irrigen Annahme, dass man mich, wie es oft geschah, wegen meiner Molligkeit gehänselt hatte, las mir meine besorgte Mutter Hans Christian Andersens Märchen »Das hässliche Entlein« vor. »Es war einmal«, begann sie ihre Gutenachtgeschichte mit sanfter, beruhigender Stimme. Ich kuschelte mich unter die weiche Bettdecke und hörte zu. Es gefiel mir, wie das von allen verspottete hässliche Küken zum wunderschönen Schwan heranwuchs. Eine Lösung meiner eigenen Probleme fand ich in der sentimentalen Erzählung nicht.
Wenige Tage später bedachte mich meine Mutter, als ich aus der Schule kam, nicht mit dem üblichen forschenden Blick, sondern schaute mich mitleidig an. Was hatte das zu bedeuten? Leicht verunsichert verstaute ich meine Sachen, wusch mir die Hände und setzte mich an den Küchentisch. Als ich, was sonst nur an Sonn- und Feiertagen geschah, ein Wiener Schnit zel vorgesetzt bekam, befiel mich eine düstere Ahnung. Ich stopfte mir einen großen Löffel mit Kartoffelsalat in den Mund und blieb gegen jede Gewohnheit ungerügt. Im Gegenteil, meine Mutter lächelte mild, strich ihre weiße Schürze glatt und setzte sich zu mir. »Sei nicht traurig«, meinte sie. »Aber dein Hansi ist verschwunden. Heute früh war sein Ställchen leer. Und das Türl offen.« Mir wurde vor Schreck ganz kalt. Hansi, mein geliebtes schwarz-weißes Kaninchen mit den langen Ohren, dessen weiches Fell ich so gern streichelte, den ich mit Karotten und Löwenzahn verwöhnte, ja förmlich mästete! »Wo, glaubst du, kann er denn sein?«, fragte ich weinerlich. »Werd ich ihn wiederkriegen?«
Bis in die Abendstunden suchte ich die Nachbarschaft nach meinem Lieblingstier ab. Ich fragte alle, die mir begegneten, erhielt jedoch nur negative Auskünfte. Schließlich verfasste ich noch eine Suchanzeige, ging zum Rathaus und klebte sie neben den Schaukasten mit den Verlautbarungen der Gemeinde. Tags darauf schaute ich nach, begleitet von meiner Runde, die ich sofort eingeweiht hatte. Schon von Weitem leuchtete uns die auf einen Zettel geschmierte, trotz Rechtschreibfehlern eindeutige Botschaft in roten Großbuchstaben entgegen: KRIGST NIMER!!!!! Wir erstarrten vor Entsetzen.
Der infame Schreiber sollte Recht behalten – Hansi tauchte nie wieder auf. Noch lange rätselte ich, welch trauriges Schicksal ihn ereilt haben könnte. Zwei Wochen verstrichen. Dann verbreitete sich das Gerücht, dass der Fleischer eines kleinen Dorfes unweit der Stadt Kaninchenfleisch – es soll sehr fett gewesen sein – zum Verkauf angeboten hätte. »Ob vielleicht der Hahn Peter?«, formulierte Mizzi ungeschickt ihren dunklen Verdacht. Ich teilte diesen voll und ganz, schwieg jedoch. In meinem Innersten hatte ich schon längst einen Entschluss gefasst. Es fehlte nur noch die passende Gelegenheit. Und die kam.
Schon ab Mitte Juni gingen die Kinder unserer Stadt, wenn das Wetter es nur halbwegs erlaubte, jeden Nachmittag die kurze Strecke aus der Stadt hinaus und durch ein kleines Wäldchen hinunter bis zum Ufer des träge, braun und mit Laub bedeckt dahinströmenden
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