Leichensee
zweier Menschen. Die kleineren mit dem schmalen Absatz rührten vermutlich von Frauenstiefeln her. Die größeren stammten von Männerschuhen. Sollten die kleineren Abdrücke tatsächlich von Amy sein, warf das die Frage auf: Weshalb war sie von der Straße in diese enge Passage abgebogen? War das vielleicht eine Abkürzung zum Coffeeshop? Oder hatte sie versucht, ihren Verfolger abzuhängen?
Cotton bog in die Gasse ein. Die Sorge um Amy trieb ihn voran. Allerdings musste er bei jedem Schritt auch damit rechnen, dass sich Dodsons Schatten aus einem der dunklen Hauseingänge lösen und über ihn herfallen könnte.
Nach knapp hundert Metern mündete die Gasse tatsächlich auf die Hauptstraße. Cotton blieb stehen und sah sich um. Innerhalb weniger Sekunden nahm er jedes noch so kleine Detail auf.
Plötzlich verharrte sein Blick auf einem leblosen Körper.
Von dem Coffeeshop lag Amy rücklings im Schnee. Ihr blutüberströmtes Gesicht war vor Entsetzen erstarrt, die Augen weit aufgerissen.
Wie betäubt trat Cotton vor die Leiche. Er spürte die beißende Kälte nicht mehr, nur noch Wut auf den Mörder, der das schöne Gesicht Amys mit einem Hackbeil zerstört hatte. Die blutige Tatwaffe, mit der ihr der Schädel gespalten worden war, lag neben der Toten im Schnee.
Cotton löste sich aus der Starre und besah sich den Tatort. Die Indizien sprachen dafür, dass der Mörder seinem Opfer von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden hatte. Der tödliche Schlag war mit zielgenauer Präzision von vorne ausgeführt worden. Hätte Amy wegzurennen versucht, hätte das Hackmesser sie seitlich oder am Hinterkopf getroffen. Auch fanden sich an ihren Armen und Händen keinerlei Verletzungen, die entstanden wären, wenn sie sich gewehrt hätte. Der Mörder hatte sein Opfer nicht überrascht, sondern war ihm offen gegenübergetreten. Was bedeutete, dass es ihn gut genug kannte, um kein Misstrauen zu entwickeln. Während der Täter vor Amy trat, hatte er die Mordwaffe vermutlich hinter seinem Rücken versteckt. Das Hackbeil musste sie völlig unerwartet getroffen haben.
Cotton untersuchte den Boden ringsum. Der Schnee war allerdings zu aufgewühlt, um aus den Spuren etwas Aufschlussreiches herauszulesen. Er richtete sich auf und hielt Ausschau nach etwas Verdächtigem. Obwohl niemand auf der Straße zu sehen war, stand für ihn außer Frage: Als Mörder kam nur Terry Dodson infrage. Er hatte entweder zeitgleich mit Amy oder kurz nach ihr die Kirche verlassen.
Cottons Überlegungen gingen plötzlich in eine andere Richtung. Wenn die Versammlung in der Kirche beendet war, würde es hier bald vor Leuten wimmeln. Der Tatort musste gesichert werden. So wenig ihm der Gedanke gefiel – dafür war er auf Sheriff Pearces Mithilfe angewiesen.
Decker traf im Laufschritt am Tatort ein. Bestürzt blieb sie neben dem G-Man stehen und starrte auf die Tote.
»Les Bedell hatte recht«, murmelte Cotton. »Der Serienmörder mordet wieder.«
»Sie haben mit Bedell gesprochen?« Decker wandte ihm überrascht das Gesicht zu. »Wann?«
»Heute Nachmittag bei Carnahan, als ich oben im Haus war. Bedell meinte, der Täter könnte aufgrund der jüngsten Leichenfunde wieder aktiv werden. Und falls bisher Zweifel daran bestanden haben, ob der Killer auf dieser Insel ist, dürften die zerstreut sein. Sehen Sie, da liegt seine Mordwaffe.« Er deutete auf das handgefertigte Hackmesser im Schnee. »Als Metzger sollte es für Dodson nicht schwer sein, damit umzugehen.«
»Möglicherweise hat er Amy ermordet, aber mit den Leichen am Strand dürfte er nichts zu tun haben«, gab Decker zu bedenken. »Er ist höchstens zwanzig. Spencer zufolge begann die Mordserie sehr viel früher. Dodson könnte allenfalls ein Trittbrettfahrer sein. Er hat aus den Nachrichten oder der Zeitung von den Leichenfunden am Strand erfahren. Dann hat er den Modus Operandi nachgeahmt. Weshalb, werden wir beim Verhör erfahren, nachdem wir ihn geschnappt haben.«
»Gegen diese These spricht, dass Amy mit einem selbst gefertigten Hackbeil getötet wurde«, erwiderte Cotton. »Genau wie die anderen Toten vom Strand. Das kann Dodson aus keiner Zeitung erfahren haben, denn es wurde nirgendwo erwähnt. Wie also kam er an die Information über die Mordwaffe? Meines Erachtens gibt es darauf nur eine Antwort: Er kennt den wahren Serienmörder und setzt dessen Werk als sein Nachfolger fort. Das würde auch erklären, weshalb sein Mentor in den vergangenen Jahren nicht mehr getötet hat. Er
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