Leichensee
kalkuliert. Würde dieser Mann Zwangshandlungen unterliegen, würde er seine Opfer nach bestimmen Kriterien auswählen …« Ein statisches Rauschen übertönte die letzten Worte.
»Was ist mit einem schizophrenen Mörder«, warf Cotton ein. »Würde der seine Opfer nicht wahllos töten?«
»Gegen Schizophrenie spricht, dass der Täter so lange unentdeckt geblieben ist. Schizophrene neigen dazu, sich selbst zu verraten, weil sie ihre verschiedenen Persönlichkeiten nicht unter Kontrolle halten können. Wenn Sie mich also direkt fragen, was für ein Mensch dieser Mörder ist, würde ich antworten: ein ganz normaler. Es liegt wahrscheinlich keine geistige Krankheit vor. Wohl eher ein stark ausgeprägtes Bedürfnis, seine Überlegenheit gegenüber der Gesellschaft zu beweisen. Deshalb ließ der Verbrecher am Tatort immer seine unverwechselbare Visitenkarte in Form der Mordwaffe zurück. Mit den Hackbeilen wollte er die Polizei herausfordern nach dem Motto: ‚Dieses Blutbad stammt von mir. Fangt mich, wenn ihr könnt.’ Er wollte die Ermittler auf diese Weise verspotten und beweisen, dass er besser war als sie.«
»Wenn ich Sie recht verstehe, haben wir es mit einem Mörder zu tun, der aus Langeweile mordet?«
»Langeweile kann durchaus mit im Spiel gewesen sein. Nämlich dann, als der Killer irgendwann die Lust am Töten verloren hat. Was mich an der ganzen Geschichte verstört ist, dass er die Leichen seiner Opfer auf eine Insel gebracht und dort vergraben hat. Der Transport erforderte einigen Aufwand an Logistik und war zudem risikoreich.«
»Aber effektiv, wie man sieht«, meinte Cotton. »Wer weiß, ob und wann man die Leichen entdeckt hätte, hätte der Zufall nicht seine Hände im Spiel gehabt.«
»Das ist richtig. Außerdem zeugt die Methode von einer außergewöhnlichen Kaltblütigkeit des Mörders. Aber da ist noch etwas: Wenn ich Sie vorhin richtig verstanden habe, hat der Täter einen regelrechten Friedhof angelegt. Für mich ein Indiz, dass er diese Stelle heimlich aufsuchen wollte oder aufgesucht hat, um den Toten nahe zu sein und das Gefühl zu genießen, dass nur er das grausige Geheimnis dieses Ortes kennt.«
»Was wiederum bedeutet, dass er ziemlich oft zwischen dem Festland und der Insel gependelt sein muss. Einmal um die Toten zu entsorgen und dann, um sich an ihnen zu berauschen. Trotzdem beantwortet das nicht die Frage, wieso er niemanden auf Chappaquiddick umgebracht hat. Das hätte ihm den leidigen Transport erspart.«
»Hätte die Polizei in einem Mordfall oder einer möglichen Entführung auf der Insel ermittelt, hätte sie dabei auf die am Strand verscharrten Leichen stoßen können. Und …« Bedell stutzte, weil ihm gerade eine alarmierende Erkenntnis kam. »Zumindest war es bisher so.«
»Was soll das heißen, bisher? « Cotton legte die Stirn in Falten.
»Möglicherweise könnte der Mörder nach seiner jahrelangen sogenannten Cool-off-Phase jetzt wieder zuschlagen.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Weil der Fund seiner Opfer die Parameter seines ‚Spiels’ geändert hat. Wie ich bereits sagte, tötete er nicht aus einem krankhaften Zwang heraus. Ihn reizte der Nervenkitzel, das Katz-und-Maus-Spiel mit den Ermittlern. Irgendwann verlor er das Interesse am sich wiederholenden Ablauf. Ihm fehlte die Herausforderung. Da er keiner triebhaften Veranlagung ausgeliefert war, konnte er von heute auf morgen mit dem Töten aufhören. Sollte meine Theorie stimmen, und er hat aus einer Art sportlichem Ehrgeiz gemordet, könnten die jüngsten Berichte über die Leichenfunde sein Interesse daran wieder geweckt haben.«
»Sollte Ihre Theorie stimmen«, griff Cotton den Gedanken auf, »hätten wir ein Riesenproblem. Denn dann müssten wir tatenlos auf das nächste Opfer warten, das der Täter mit einem Hackmesser erschlägt.«
»Genauso ist es«, bestätigte der Psychiater. »Bleibt nur zu hoffen, dass der Mörder nicht durch irgendeinen dummen Zufall gerade bei Ihnen auf der Insel ist. Die momentane Situation spielte ihm nämlich in die Hände. Zum einen ermittelt das FBI vor Ort, was seinen Ehrgeiz neu anstacheln könnte. Zum anderen sind die Wetterbedingungen ideal zum Spurenverwischen und Untertauchen. Er könnte es außerdem als besonderen Reiz verstehen, dass niemand aus seinem von der Außenwelt abgeschnittenen Jagdrevier entfliehen kann, wodurch ihm jede Bewohnerin der Insel ausgeliefert ist und sein nächstes Opfer werden könnte …«
Knisternd brach die Verbindung zusammen. Über
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