Leichentücher: Psychothriller (German Edition)
sich haben würde.
Ihre Bedenken waren ihnen damals ernst erschienen, weltengroß. Dann hatte die Tomografie einen Schatten gezeigt und gesagt: Dies ist die Dunkelheit, in die ihr reist.
5
Am Morgen klingelte der Wecker um Viertel vor sechs. Mikael sprang sofort aus dem Bett, ohne sich zu räkeln oder bei seinen Träumen zu verweilen. Schlussendlich musste man ja doch aufstehen, und so war Zaudern wie Wasserfolter.
Erst als er die Zeitung holte, fiel ihm ein, dass es sein zweiter freier Tag war. Zwangsurlaub. Er hatte den Wecker gestellt, als hätte er gehofft, zur Arbeit gehen zu dürfen.
Mikael goss Orangensaft in ein Glas, breitete die Zeitung auf dem Tisch aus und betrachtete die Vögel vor dem Fenster, die um den Baum herumflogen und in einer Weise davonschossen, als hätten sie ein Ziel. Die Vögelchen lebten im Durchschnitt nur zwei, drei Jahre, auch wenn die alten Leute, die ihre Vogelhäuschen stundenlang beobachteten, anderer Meinung waren. Sie glaubten, ihre kleinen Freunde kämen auch nach zehn Jahren noch zurück, um sie zu begrüßen.
Mikael nahm einen Schluck Saft und merkte, dass er ihn nicht hinunterbekam. Er musste husten und der Saft lief ihm über das Kinn. Seine Kehle schwoll zu wie bei einer allergischen Reaktion.
Als Mikael hektisch aufstand und die Finger auf seinen Adamsapfel presste, kippte das Glas um, und der Saft färbte die Zeitung gelb. Hinter dem gegenüberliegenden Haus ging die Sonne auf, es sah aus wie eine langsame Explosion.
Mikael stützte sich auf den Küchentisch, schloss die Augen und überlegte, was Saana zum Schluss empfinden würde. Er erinnerte sich, wie er als Kind die Luft angehalten hatte, umherauszufinden, wie seine Mutter sich bei einem Asthmaanfall fühlte. Ein kleines Kind, das sterben übt.
Mikael atmete tief durch, füllte die Lunge mechanisch mit Luft, hob bei jedem Atemzug die Schultern. Es geht bald vorbei. Ich bin nicht wirklich in Gefahr. Dafür treten die Symptome viel zu selten auf. Globus hystericus , wie die alte Bezeichnung lautete, die Nummer eins unter den psychosomatischen Beschwerden.
Das Sonnenlicht wärmte sein Antlitz. Mikael öffnete die Augen, um es zu sehen. So war man wohl zu allen Zeiten darauf aufmerksam geworden, dass man noch lebte. Das Licht sehen, welch ein Wunder war das. Mikael stellte das Glas wieder hin. Der Saft war vom Papier aufgesaugt worden und hatte seine Sonnenfarbe verloren, sah inzwischen aus wie vollgepisster Schnee, durch den die Frau von der Reklame hindurchschaute. Breathe .
Minutenlang konnte Mikael den Blick nicht abwenden. Es kam ihm vor, als wäre im Gewimmel der Neuronen eine wichtige Botschaft untergegangen, auf der Suche nach einer Sprache, in der sie sich mitteilen konnte.
Blinkende Lichter. Zufälle.
6
An seinem ersten Arbeitstag auf Station A hatte Mikael Spätschicht. Da der Parkplatz der Klinik überfüllt war, parkte er halb auf dem Rasen.
Als er auf das Gebäude zuging, sah er eine Gruppe von vier Personen. Die Verwaltungsdirektorin, die Personalchefin und zwei Männer, denen man auf den ersten Blick ansah, dass sie wegen der bevorstehenden Fassadenrenovierung gekommen waren. Das ging aus ihrer Haltung ebenso hervor wie aus ihrer Kleidung, die optimal geeignet war, wenn langes Herumstehen auf Baustellen angesagt war, weil man sich auf die Arbeiter nicht verlassen konnte, der Kontrakt zu scheitern drohte und der Termin drängte.
Alle Gebäude der Klinik, mit Ausnahme des Personalwohnheims und eines Neubaus, stammten aus dem 19. Jahrhundert, aus der Zeit vor dem Brand, der die Altstadt in Schutt und Asche gelegt hatte.
Die vier standen auf einem kleinen Hügel, der vor hundertfünfzig Jahren noch eine Insel gewesen war. Damals waren in der Klinik Syphilitiker behandelt worden, die in einem Boot auf die Insel gebracht worden waren, ohne dass sie Aussichten auf Genesung gehabt hätten. Inzwischen brauchte man kein Boot mehr.
Als Mikael näher kam, legte der eine Mann den Kopf in den Nacken und entdeckte offenbar etwas Wichtiges an der Dachkante. Die anderen blickten ebenfalls nach oben. Schreckensbilder von der Renovierung waren in den Pausenräumen schonseit fast einem halben Jahr gemalt worden. Die Arbeit würde lange dauern, da das Gebäude unter Denkmalschutz stand.
Während seines ersten Praktikums hatte Mikael mit einem älteren Pfleger ein Isolierzimmer putzen müssen, nachdem der Patient es geschafft hatte, einen Arm aus dem Fixiergurt zu befreien, und anschließend seine eigene
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