Leichentücher: Psychothriller (German Edition)
»Sollen wir uns vielleicht mit Küsschen begrüßen?«
Es folgte freudloses Gelächter, und jedes Augenpaar entdeckte irgendetwas Interessantes auf dem Fußboden.
»Setz dich doch«, sagte Autio nach der Vorstellungsrunde und ließ sich auf seinen Stuhl fallen. »Wir fangen immer sofort mit dem Bericht an, wenn der letzte Italiener angesegelt kommt.«
Mikael sah sich nach einem Sitzplatz um, fand aber keinen. Einer der Pfleger, ein schwarzhaariger mürrischer Typ, der sich als Helminen vorgestellt hatte und aussah, als hätte man ihn gerade aus dem Schlaf gerissen, zog den freien Stuhl, der hinter ihm stand, an den Tisch.
Autio behielt den Plauderton bei, während alle anderen einmütig schwiegen. Er sprach über die generellen Abläufe, die Medikamentenausgabe, die Prinzipien beim Schichtwechselund die Pausenregelung. Nichts unterschied sich von der Praxis auf Station D, aber Mikael nickte beflissen.
»Hast du eine Lieblingsschicht?«, fragte Autio.
»Ich mache ganz gerne Nachtdienst«, antwortete Mikael.
»Ehrlich?« Helminen, der neben ihm saß, lachte auf. »Da hast du Glück. Ich trete dir mit Vergnügen meine Dienste ab.«
»Ist mir recht.«
»Und deine Frau meckert nicht, wenn du tagsüber schläfst?«, fragte Autio.
»Nein.«
»Bei uns geht das Gemotze sofort los, wenn ich den Kopf auf was Weiches lege. Vermutlich brauchst du deine Frau nicht zu betütern wie eine Patientin.«
»Nein.«
Irgendwer hüstelte leise. Maila unterbrach die peinliche Stille, die plötzlich einsetzte, und ließ sich darüber aus, wie wichtig Körperkontakt bei psychisch Kranken sei und wie wenig Wert man in dieser Klinik darauf lege.
Während sie redete, sah sie der Reihe nach jedem der Anwesenden in die Augen, bekam aber kaum ein Echo. Mikael wusste nicht, ob es an dem plötzlichen Themenwechsel lag oder daran, dass Pfleger im Allgemeinen kein Interesse daran haben, während der Arbeitszeit über berufliche Dinge zu sprechen.
»Körperkontakt gibt es bei uns doch ständig«, mischte sich Stefu ein, als der Monolog kein Ende nehmen wollte. »Jeden Tag halten mindestens drei Männer den Koistinen im Arm, auf dem ganzen Weg zum Isolierzimmer.«
Mikael lachte auf und nickte. Er sah auf seine Finger, als wollte er die Nägel inspizieren. Dachte an den Plastikteller. Spürte die seltsamen Spannungen zwischen den Menschen um ihn herum, ihr Mitleid und ihr Misstrauen. Seine Hand zitterte, deshalb steckte er sie in die Tasche.
Autio setzte seinerseits zu einem Monolog an. Er machte seine Sache wesentlich besser. Er berichtete über die bald zuerwartende neue Chefärztin und spekulierte über künftige Veränderungen, übte versteckte Kritik an Jokela, der seit fast dreißig Jahren im Haus war. Ein netter Mann, aber hoffnungslos unbedarft, was die Realität auf den Stationen betraf.
»Die Neue kommt aus Helsinki, aus der Lapinlahti-Klinik«, erklärte Autio, als wäre das ein Grund zur Verwunderung. »Hannele Groos. Soll sehr kompetent sein.«
Er wollte noch weiterreden, doch am Fenster war eine Patientin erschienen. Die alte Frau, die Mikael bei seiner Ankunft gesehen hatte, zog die Aufmerksamkeit aller auf sich.
»Das ist unsere Alli«, erklärte Autio. »Ist sie nicht eine reizende alte Dame?«
Die Frau trug ein geblümtes Kleid. Ihr Mittelscheitel war wie mit dem Lineal gezogen. Ihre Hände ruhten gefaltet vor ihrer Brust. Sie lächelte Mikael an.
»Ja«, sagte Mikael. »Sie ist sogar aufgestanden, als ich hereinkam.«
»Ja, Alli beherrscht das Protokoll. Trotzdem dürfen wir nicht vergessen, dass sie vor mehr als vierzig Jahren hier eingeliefert wurde, weil sie ihren Mann, einen Kriegsveteranen, und ihre zehnjährige Tochter mit einer Laubsichel umgebracht hat. Am dreiundzwanzigsten Dezember sechsundsechzig. Sie hatte gerade den Christbaum geschmückt und die Wohnung auf Hochglanz poliert. Angeblich konnte man sich in jeder Fläche spiegeln. Davon erzählt sie immer noch. Über die Tat selbst kein Wort.«
Während Autio sprach, sah er die ganze Zeit Alli an, die nur einen Meter von ihm entfernt hinter der Scheibe stand. Ihr herzliches Lächeln hätte man auf der Titelseite des Gemeindeblättchens abdrucken können. Die gefalteten Hände wirkten friedlich. Vielleicht hielten sie sich seit Jahrzehnten gegenseitig in Schach.
Alli zog sich vom Fenster zurück, als der letzte Mann der Abendschicht mit wehendem Kittel und schweißnasser Stirndie Station betrat. Er stürmte mit einer Entschuldigung auf den Lippen in
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