Leichentücher: Psychothriller (German Edition)
Hinweise auf böswillige Körperverletzung vonseiten des Pflegers zu finden.
In diesem Moment brandete im Aufenthaltsraum ein fürchterlicher Lärm auf. Groos beugte sich vor und blickte durch das Fenster auf die Station.
Irma war von ihrem Stammplatz aufgesprungen. Mit hochrotem Gesicht brüllte sie Autio an. Hinter ihr hielten sich zwei Pfleger bereit, die gerade die Hände aus den Kitteltaschen zogen.
»Müssen Sie hin?«, fragte Groos.
Sie hat also keinen Schimmer, dachte Mikael. Hinter ihrer kühlen Autorität war die Gestalt eines einsamen Menschen zu sehen.
»Warten wir’s ab«, erwiderte er. »Irma ist in letzter Zeit schwierig.«
»Es war Selbstverteidigung«, sagte Groos, ohne den Blick von dem Zwischenfall auf der Station abzuwenden. »Auch in dieser Klinik tut das Personal den Patienten jeden Tag viel Schlimmeres an. Kleine, sich anhäufende Missstände, die uns eines Tages gesammelt um die Ohren fliegen. Die Sache ist erledigt.«
»Ach«, sagte Mikael. »Danke.«
»Keine Ursache.« Groos stand auf. »Ein so vernaschbarer Mann.«
Sie ging an Mikael vorbei und verließ das Stationszimmer. Der Raum füllte sich sekundenlang mit dem Lärm der Station, dann fiel die Tür zu. In der Luft hing der Geruch von Parfüm oder Desinfektionsmittel oder einer Mischung von beidem. Mikael schnupperte und starrte vor sich hin und wurde sich einfach nicht klar darüber, ob er richtig gehört hatte.
Als er in den Aufenthaltsraum blickte, sah er, dass Irma auf ihren Stuhl gesunken war. Autio stand mit erhobenem Zeigefinger vor ihr und redete auf sie ein.
Mikael betrachtete das stumme Schauspiel und lauschte dem Echo von Groos’ Worten nach. Sowohl der Absolution als auch der Vernaschbarkeit. Einen Augenblick lang kam es ihm so vor, als wäre die Welt irgendwie offener, als wären seine Arme leichter.
Das Gefühl hielt exakt so lange an, wie er es schaffte, den Gedanken an Saana zu verdrängen.
19
»Die Birkenfeige muss aus meinem Dienstzimmer verschwinden«, sagte Hannele Groos zu Oberschwester Parkkonen, die während der Stationsvisite neben ihr hergegangen war wie ein gut dressierter Blindenhund oder eine domestizierte Hyäne. Was von beidem zutraf, hatte Groos noch nicht herausgefunden. Einerseits war aus Mimik und Gestik der Oberschwester zu schließen, dass sie jeden Wunsch der Chefärztin sofort erfüllen würde. Was sie andererseits äußerte, klang nicht danach.
»Jokela hat sie hiergelassen«, erklärte Parkkonen. »Sie ist nach dem ersten Patienten benannt, der in seiner Dienstzeit entlassen wurde. Ob sie überhaupt noch durch die Tür passt?«
»Wenn nicht, wird sie eben in Stücke geschnitten«, sagte Groos, blieb mitten auf dem Flur stehen und fixierte ihr Gegenüber. Die Leute würden begreifen müssen, dass sie hier nicht zum Vergnügen schwatzte, sondern Wünsche äußerte, die sie verwirklicht sehen wollte.
»Sorgen Sie dafür, dass sie morgen früh abgeholt wird.«
Parkkonen legte den Kopf schräg, als hörte sie sich eine Klage über Stress am Arbeitsplatz an.
»Wollen Sie ihn nicht wissen?«, fragte sie.
Hannele warf ihr einen Blick zu, so voller Verblüffung, wie es sich mit ihrem Prestige vereinbaren ließ.
»Den Namen?«, half Parkkonen ihr auf die Sprünge.
»Ob ich den Namen eines Feigenbaums wissen will?«
»Ja. Er ist sozusagen historisch…«
»Nein«, fiel Groos ihr ins Wort. »Ich will, dass das Ding ausmeinem Zimmer verschwindet, damit ich mich auf meine Arbeit als Chefärztin einer psychiatrischen Klinik konzentrieren kann.«
Ihre Stimme wurde nicht lauter, ihr Puls beschleunigte sich nicht. Auch Parkkonen blieb, ob nun Blindenhund oder Hyäne, ruhig, blinzelte allerdings ein paar Mal. Möglicherweise nutzte sie die Pause, um ihr Verhalten den neuen Anforderungen anzupassen.
»Nun ja«, meinte sie schließlich. »Es mag merkwürdig wirken, Pflanzen einen Namen zu geben. Zumindest, wenn man von außen kommt. Wenn man keine emotionale Bindung hat.«
»Morgen früh. Ist das klar?«
»Ja.«
»Danke«, sagte Groos und ging in ihr Dienstzimmer. Sie zog die Tür hinter sich zu, denn Parkkonen hatte die Angewohnheit, ihr zu folgen, wenn sie es ihr nicht ausdrücklich verbot.
Es war nicht schwer, sich das vertrauensvolle Verhältnis vorzustellen, das Jokela und Parkkonen gehabt hatten. Geplauder im Zimmer des Chefarztes, vielleicht auch ein kleiner Flirt, bei dem aber die Grenzen bedingungslos respektiert wurden. Eine solche Idylle entstand nur durch jahrzehntelange
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