Leichentücher: Psychothriller (German Edition)
dachte er, es sei Schamesröte, doch dann hielt er es für wahrscheinlicher, dass es sich um unterdrückte Wut handelte. Er konnte sich Stefus Kommentar vorstellen. Scheiße, die zahlen nix für ihr Essen. Die werden auf Kosten der Steuerzahler durchgefüttert .
»Zweitens: Während des Nachtdienstes bleiben beide Pfleger wach. Beide. Nachtdienst bedeutet nicht, dass Mitarbeiter nachts schlafen. Haben wir uns verstanden?«
Niemand antwortete. Zustimmung wäre ein Verrat gegenüber den Kollegen gewesen, und den wollte in diesem Moment niemand begehen. Es lag auf der Hand, dass irgendwer ausgeplaudert hatte, was auf Station Usus war. Oberschwester Parkkonen saß unschuldig wie die Puppe eines Bauchredners neben der Chefärztin.
»Gut«, sagte Groos und erhob sich. »Dann wünsche ich frohes Schaffen.«
Stefu sprang sofort auf und stürmte hinaus, als hätte er in einem Haufen Scheiße gesessen. Autio wechselte noch einige Worte mit Oberschwester Parkkonen und Hannele Groos.
»Sie sind Mikael Siinto, oder?«, fragte Groos plötzlich, mitten im Gespräch.
»Ja, der bin ich.«
»Wir sind uns ja schon begegnet«, fuhr sie mit ausdruckslosem Gesicht fort.
»Richtig, ja, im Vorbeigehen.«
»Hätten Sie Zeit für ein kurzes Gespräch?«
Mikael spürte, wie Autio und Oberschwester Parkkonen zuihm herüberstarrten, und das Zucken seiner Halsmuskeln. Er warf einen Blick in den Stationsflur, gerade so, als müsste er dort nachsehen, ob er Zeit hatte.
»Natürlich.«
»Sie sind Olavi Finne als Pfleger zugeteilt«, sagte Groos, als alle anderen gegangen waren.
Aus den Augenwinkeln sah Mikael, dass hinter dem Fenster zur Station Gedränge herrschte. Die Patienten waren während der gesamten Besprechung vorbeiflaniert, um die neue Chefärztin zu besichtigen. Jetzt hatten sich auch einige Kittelträger unter die Neugierigen gemischt.
»Ja«, antwortete er schlicht.
»Irgendein Jugendfreund von Finne hat angerufen und um ein Treffen gebeten.«
»Mit mir?«
»Nein, mit Finne natürlich«, sagte Groos. »Er behauptet, er müsse ein paar Dinge mit ihm klären. Ich habe ihm dargelegt, dass wir im Hinblick auf Besuche sehr restriktiv sind, aber der Bursche ist ziemlich … resolut. Finne hat offenbar kaum Besuch bekommen?«
»Nein, seinen Unterlagen nach nicht.«
»Das heißt, er hat keinen Besuch gehabt, sofern das Personal seine Arbeit erledigt und die Berichte korrekt geschrieben hat.«
»Ich bin erst seit Kurzem sein Pfleger, aber ich weiß, dass seine Verwandten keinen Wert darauf legen, ihn zu sehen. Kriminelle Patienten bekommen praktisch nie Besuch.«
»Glauben Sie, ein Besuch würde ihm schaden?«
Mikael zuckte die Achseln. Jokela hatte die Pfleger nie nach ihrer Meinung gefragt. Er hatte sich an das Prinzip gehalten, dass er als Chefarzt besser bezahlt wurde, weil er die Entscheidungen traf und die Verantwortung übernahm.
»Dazu kann ich nichts sagen. Er hat starke Wahnvorstellungen. Seinem früheren Pfleger zufolge lässt ihn die Außenwelt völlig kalt.«
»Aber niemand weiß, welche Wirkung ein Besuch hätte, da es bisher ja keinen gegeben hat.«
»Mag sein«, sagte Mikael.
»Es ist also durchaus möglich, dass der Besuch eine positive Wirkung auf den Patienten hat, nicht wahr? Immerhin handelt es sich um einen chronischen Fall, bei dem bisher keine Behandlung angeschlagen hat.«
Mikela versuchte, die Sache aus dieser radikal neuen Perspektive zu betrachten. Jokela hatte praktisch nie von der Heilung der Patienten gesprochen, jedenfalls nicht ernsthaft.
»Tja … möglich wäre es«, antwortete er. »Vielleicht macht es den alten Mann glücklich, wenn sich jemand die Zeit nimmt, ihm zuzuhören.«
»Nehmen Sie sich diese Zeit nicht?«
Mikael straffte sich. »Doch, natürlich, aber im pflegerischen Sinn.«
»Sie hören also zu, bezweifeln aber, dass es etwas bringt?«
»Genau. So ist es hier meistens«, antwortete Mikael störrisch. »Leider.«
Groos nickte und seufzte, ein Zeichen des Einverständnisses, falls Mikaels Deutung zutraf. Für einen verschwindend kurzen Moment flackerte ihr Blick, als hätte sie auf einmal vergessen, wo sie war …
»Gut«, sagte sie dann. »Sind Sie nicht derjenige, den Aulis Rantala auf Station D verwundet hat?«
Die Frage kam beiläufig, im Plauderton, doch sie verschlug Mikael die Sprache. Nun war es also so weit, die Sache würde wieder aufgerollt werden, man würde jede Mikrosekunde des Handgemenges unter die Lupe nehmen und versuchen, in Aulis’ Geschwafel
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