Leichentücher: Psychothriller (German Edition)
in zackigem Deutsch das Ausmaß ihrer Großzügigkeit.
»Verschlissen«, flüsterte Reijo. »Krank. Das Risiko ist zu groß, Olavi.«
Die Frauen stiegen der Reihe nach auf eine hölzerne Likörkiste, balancierten dort oben wie in einem Spiel. Man hätte sich gut eine andere Situation ausmalen können, Verwandte rundherum, freundlich stützende Hände und ein anderes Lachen, eines, das auch die zitternden Lippen der Frauen angesteckt hätte. Doch der Krieg machte aus allem ein Negativbild. Das Spiel war, wie es war, da half nichts.
Der Kanonendonner setzte wieder ein.
Er war immer dann zu hören, wenn die Nadel des Grammofons, das die Deutschen mitgebracht hatten, das Ende der Platte erreicht hatte. Dass die Musik fehlte, merkte man nicht gleich. Zuerst kam die Traurigkeit, erst dann die Erkenntnis, dass die Nadel kratzte, die Flaschen klirrten, die Welt dröhnte.
Olavi und Reijo tranken den Beerenlikör, den die Deutschen gebracht hatten, wie Wasser. Drei volle Kisten standen im Zimmer, eine fürstliche Menge. Einer der Deutschen erzählte, bald werde die ganze Stadt leer sein. Himmler persönlich habe angeordnet, die Menschen wegzubringen und alle Gebäude dem Erdboden gleichzumachen. Es gehe sogar das Gerücht um, dass dort, wo sich jetzt noch die Stadt befinde, ein See angelegt werden solle. Der Mann musste das Wort »See« wiederholen, obwohl Olavi es in der Schule gelernt hatte. Etwas so Großes konnte man nicht sofort begreifen: Die Stelle, wo er saß, würde bald zehn Meter unter dem Wasser liegen. Olavi lachte mit den anderen. Er trank noch mehr. Trunkenheit war eine gute Betäubung, keine, die die Seele gefangen nahm.
Wenn ihr jetzt beginnt, euch zu fürchten, werdet ihr euch bis zu eurem Tod fürchten …
Irgendwo entstand ein kleines Handgemenge, als ein deutscher Feldwebel einen klein gewachsenen Finnen aufforderte, seinen Ahnenpass vorzuweisen, bevor er eine der Frauen bestieg. Mit einer roten Karte gebe es keinen Fick. Die Vernünftigeren mischten sich ein, als der Deutsche seine Pistole zog. Die Grammofonnadel wurde am Anfang der Platte aufgesetzt, und die Streithammel wurden in separate Zimmer gebracht. Gelächter. Ein betrunkener Deutscher versuchte zu erkunden, warum Olavi und Reijo hergekommen waren, so junge Männer, fast noch Kinder. Sie erklärten, es sei ihre Pflicht gewesen, viele junge Finnen hätten sich von den Deutschen anwerben lassen.
Warum ?, lallte der Mann immer noch, als er kaum mehr sprechen konnte. Er versuchte, seinen wackelnden Kopf gerade zu halten, schien in seiner Uniform zu versinken.
Später schwankte Olavi betrunken in eines der Zimmer, die für den Verkehr mit den Frauen reserviert waren. Das Gesicht der Frau, die unter dem Mann lag, sah er nicht, denn sie hatte den Kopf zur Seite gedreht und enthüllte nur ein zwischen denLocken hervorlugendes Ohrläppchen und eine nackte Brust, ein Knie unter dem hochgeschobenen Rock, das unter den Bewegungen des Mannes zuckte wie das Bein einer Toten.
Olavi sagte zu Reijo, der am Kartentisch vor sich hin stierte, er gehe pinkeln. Da alle Aborte besetzt waren, ging er nach draußen, bog an der zweiten Straßenecke in eine nicht einmal zwei Meter breite Seitengasse ein. In der Dunkelheit zog er seinen Penis heraus und begann, ihn zu reiben.
Plötzlich sah er in der stockdunklen Gasse etwas aufblitzen, ganz nah. In seiner Trunkenheit erschrak Olavi mit Verzögerung, begriff, dass er unbewaffnet war, dass möglicherweise eine russische Patrouille die Linien durchbrochen hatte. Er knöpfte sich die Hose zu und stolperte zurück.
Ein Rascheln war zu hören, als die Katze weglief. Ihre Augen flackerten erneut auf, weiter weg, verschwanden dann.
Am späten Abend wurde eine der Frauen halb totgeschlagen. Von einem finnischen Soldaten, einem Bauernsohn aus Ylistaro, der die deutschsprachigen Kommandos immer noch nicht gelernt hatte. Er hatte das Weinen der Frau nicht ertragen, hatte es zuerst im Guten versucht, aber er hatte es einfach nicht ertragen.
Die geschwollenen Lippen der Frau murmelten etwas auf Polnisch, als sie in der Ecke kauerte und versuchte, mit den Fetzen ihres Kleides ihre Blöße zu bedecken. Trotz der Blutergüsse und Wunden war zu erkennen, dass es sich um die junge Frau handelte, die beschlossen hatte, durchzuhalten. Es war ja nicht abzusehen gewesen, was passieren würde, alles wurde unberechenbar, durch den Schnaps, das Warten, die Ungewissheit, wann und wohin man abmarschieren würde.
Einer der Deutschen
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