Leichentücher: Psychothriller (German Edition)
Zusammenarbeit. Im Fall der neuen Chefärztin allerdings würde ein ganzes Menschenleben nicht ausreichen. Es fiel ihr schon schwer, eine Katze zu streicheln, um sie zum Schnurren zu bringen, und nahezu unmöglich war es ihr, ein Vertrauensverhältnis zu einem ihr unbekannten Menschen aufzubauen. Groos ruckelte an der Tür, als würde sie erwarten, dass ein Riegel einschnappte.
Seufzend ging Hannele Groos um ihren Schreibtisch herum. Sie setzte sich auf den Stuhl, dessen Höhe sich nicht mehr regulieren ließ. Er war so hoch, dass sie den Fußboden nur mit den Schuhspitzen berührte. Ihre Beine baumelten in der Luft wie bei einem kleinen Kind, ein Lutscher und zwei Rattenschwänzchen hätten gut dazu gepasst.
Olavi Finnes Mappe lag aufgeklappt auf dem Schreibtisch, denn nach dem Anruf hatte sich die Ärztin das Gutachten von Jokela und Saari angesehen. Es war noch mit der Schreibmaschine geschrieben und wirkte antik.
Paranoide Schizophrenie, Klassifikation nach ICD -10: F 20.0.
Die Diagnose hatte zum ersten kleinen Riss in der zu Beginn angenehmen Übergabebesprechung von Hannele Groos und Jokela geführt. Oder vielleicht war es auch bei diesem einen Riss geblieben, der sich dann vergrößert und verästelt hatte.
Es hatte Jokela nicht gepasst, dass ein junges Frauenzimmer es wagte, die Diagnose des Meisters infrage zu stellen, zumal sie den Patienten nie gesehen hatte. Natürlich war es zum Streit gekommen, obwohl Groos eigentlich nur ihr berufliches Interesse hatte demonstrieren wollen. Die Wahnhaftigkeit des Patienten war unverkennbar und unterstützte die Diagnose, das gab Groos zu. Aber seine Beharrlichkeit und die Tatsache, dass er nicht im Geringsten auf die Medikamente ansprach, hätten zumindest zu Spekulationen Anlass geben müssen, zu Fragen. Nicht zu beleidigtem Stolz. Das Problem war wohl gewesen, dass Groos glaubte, über eine beliebige Diagnose zu sprechen, ohne zu bedenken, dass ihrem Gegenüber die sentimental erlebte Pensionierung bevorstand. Es ging um das große berufliche Erbe.
Hannele Groos streckte die Füße, bis sie den Boden spürte, und blätterte um.
Die Stimme des Anrufers, der sich als Finnes Freund ausgegeben hatte, ließ auf einen alten Mann schließen. Seinen Namen hatte er nicht nennen wollen, obwohl Hannele Groos dreimal nachgefragt hatte. Diese Vorsicht passte zu einem Menschen, der sich in der Psychiatrie auskannte. Der Umgang mit einem psychisch Kranken war etwas Besonderes, war mystisch und erschreckend zugleich, als liefe man Gefahr, in einen Strom gerissen zu werden, von dem man wusste, dass erim Nichts endete. Die Versuchung, die Gegenwehr aufzugeben, war immer da, wenn es sich um einen nahestehenden Menschen handelte. Wie hieß es noch? Wer am Abgrund steht, fürchtet sich nicht vor dem Abrutschen, sondern davor, von der Tiefe angelockt zu werden.
Groos blätterte weiter und stieß schließlich auf den Anhang. Es waren drei schwarze Hefte, so nachlässig in eine Klarsichthülle gestopft, dass eines schon fast herausrutschte. Sie schlug es an einer beliebigen Stelle auf.
Die Seite war voller Zeichen, mit blauem Kugelschreiber gemalt, klein, aber säuberlich. Sie wirkten wie eine einzige zusammenhängende Kette, die von einem Rand zum anderen reichte. An der oberen Kante der linken Seite befand sich ein größeres Zeichen oder eher ein Bild, das wie ein großer Anfangsbuchstabe wirkte. Ein vogelköpfiges Wesen auf einem Thron. Die Zeichnung ließ jene für kranke Menschen typische fremdartige Ästhetik erkennen, die dereinst die Sammlung Prinzhorn so populär gemacht hatte. Auf den Vogelkopf war offensichtlich viel Zeit und Mühe verwendet worden. Der dazugehörige menschliche Körper war unverhältnismäßig klein und gewissermaßen schräg zum Betrachter geneigt.
Groos kniff die Augen zusammen und betrachtete die Zeichenreihen genauer. Kindliche Abwandlungen von Buchstaben und Ziffern, die in Anbetracht von Finnes Wahnvorstellungen wahrscheinlich Hieroglyphen darstellten. Das A war eine Pyramide mit einem Auge auf der Spitze. In den Bögen des M balancierte eine Menschengestalt, deren Beine miteinander verschmolzen waren wie ein Schlangenleib. Die Zeichen bildeten keine erkennbaren Wörter, doch ihre Bestimmtheit war faszinierend. Hannele betrachtete die Zeichenkette aus allernächster Nähe, sodass sie die vor Jahren getrocknete Tinte riechen konnte. Bald merkte sie, dass sich ihre Lippen bewegten. Wie vor langer Zeit in einem Seminar in Sankt Petersburg, als sie
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