Leichentücher: Psychothriller (German Edition)
befahl allen, beiseitezutreten. Er zog die Pistole, schwankte hin und her, doch seine Hand zitterte nicht, als er von hinten auf den Kopf der Frau zielte. Die Frau hatte aufgehört zu weinen. Sie sah die still dastehenden Männer vonunten herauf an, begriff wohl, was los war. Die Angst erstickte das Weinen.
Unmittelbar vor dem Schuss begann die Frau zu sprechen, doch das Wort brach ab. Olavi wandte im letzten Moment den Kopf und sah Reijos Gesicht, das im Mündungsfeuer zuckte. Reijos Miene war vom Alkohol verblödet, aber ernst, denn es war Krieg. Reijo spürte den starren Blick und drehte sich zu Olavi um. Sie sahen sich an und wussten, dass dieser Vorfall sie nicht in der Seele berührt hatte. Dass sie schon weiter unten gewesen waren.
Der Widerhall des Schusses vermischte sich mit dem Kanonendonner und hielt bis zum Morgen an.
18
Hannele Groos suchte Station A erst drei Wochen nach ihrem Dienstantritt auf.
Zu diesem Zeitpunkt wurde ihr Fernbleiben bereits allgemein als Arroganz gedeutet, obwohl Oberschwester Parkkonen versichert hatte, die Chefärztin habe einfach Prioritäten setzen müssen. Die Stationen, auf denen sich die Probleme jahrelang angestaut hätten, forderten vorrangig Aufmerksamkeit. Groos’ neue Anordnungen und ihre Auseinandersetzungen mit den leitenden Pflegern im Haus erreichten Station A fast gleichzeitig wie die darüber kursierenden Gerüchte. Es hieß sogar, dass die gewerkschaftlich Organisierten einen offiziellen Einspruch planten und dass Hagström sich an die Spitze dieser Minirevolution gestellt habe.
Die Situation führte unausweichlich dazu, dass Jokelas Chefarztzeit früher als üblich verklärt wurde. Das Pausenraumparlament pries Jokelas Unkompliziertheit, seine Menschennähe, seine Anglergeschichten, seine zotigen (aber eben deshalb so bodenständigen) Witze, seinen klapprigen alten Ford (ein Zeichen der Bescheidenheit) und das beruhigende Klappern seiner abgetretenen Holzschuhe bei der Stationsvisite jeden Montag. Alle laut ausgesprochenen Erinnerungen aber sagten gleichzeitig noch etwas anderes. Mokierten sich über Hannele Groos, die distanzierte Kleinkrämerin, die die Hauptstadt hatte verlassen müssen und sich nun für die Königin der Provinztrottel hielt.
Mikael hörte sich die Ergüsse geduldig an. Überwand sichund trank seine Kaffeetasse leer, obwohl er am liebsten laut hinausposaunt hätte, wie sehr er diese Billigplörre hasste, auch wenn Jukala, der für den Kaffee zuständig war, fand, er sei preiswert und »kein bisschen schlechter« als alle anderen Sorten.
»Tür zu, bitte«, sagte Hannele Groos, als Mikael das Stationszimmer betrat.
Sie saß auf Autios Platz am Tisch, hatte ein Bein über das andere geschlagen. Die blonden Haare hatte sie zum Knoten aufgesteckt, ein legeres Zugeständnis an ihre Position.
Mikael nickte ihr zur Begrüßung zu und suchte sich einen Platz an der Wand, hinter den im Halbkreis sitzenden Kollegen. Oberschwester Parkkonen saß neben Hannele Groos, als hätte sich nichts verändert, als hätte ihr Vorgesetzter nicht gewechselt, als wäre der Mikrokosmos der Klinik nicht erschüttert worden.
»Dann können wir ja anfangen«, sagte Groos und bat Autio, ihr das Personal und die Patienten der Station vorzustellen. Mikael hörte kaum zu, bewunderte aber Autios Fähigkeit, seine Nervosität wegen der flapsigen Bemerkung bei Jokelas Abschiedsfeier zu überspielen.
Auch Groos verhielt sich professionell und nickte an den richtigen Stellen, warf jedoch immer wieder einen Blick auf die Wanduhr. Vermutlich ahnte sie nicht, dass jeder Blick ein weiterer Beweis dafür war, dass die Klinik von einer arroganten Kuh geleitet wurde.
»Danke für die Präsentation«, sagte Groos nach einer halben Stunde, da es schien, als würde Autio in seiner Aufregung gar nicht mehr aufhören. »Ich kann meinerseits sagen, dass sich auch auf dieser Station einige Dinge ändern müssen.«
Die Pfleger verzogen keine Miene. Nur Autio blinzelte ein paar Mal.
»Erstens ist das Patientenessen für die Patienten vorgesehen«,sagte Groos und schnipste einen Fussel vom Aufschlag ihres Kittels. »Wie mir zu Ohren gekommen ist, hat es sich in diesem Haus eingebürgert, dass die Pfleger einen Teil des Patientenessens für sich abzweigen. Das ist nicht nur kindisch, sondern auch ein Dienstvergehen. Es ist Diebstahl. Die Patienten bezahlen für ihre Verpflegung.«
Mikael sah, wie sich Stefus Hals rötete und ihm die Röte schließlich ins Gesicht stieg. Zuerst
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