Leichentücher: Psychothriller (German Edition)
zum Zeitvertreib in den kyrillischen Buchstaben der Powerpoint-Präsentationeines russischen Referenten nach vertrauten Wörtern gesucht hatte. Sie schlug das Heft zu und steckte es wieder in die Hülle.
Jokela zufolge hatte Finne sich in den ersten drei Jahren seines Aufenthalts in der Klinik intensiv mit seiner Geheimschrift beschäftigt. Insgesamt waren fast fünfzig Hefte archiviert. Jedes von vorn bis hinten voll von dem gleichen Mist, hatte Jokela gesagt. Später hatte Finne mit dem Gekritzel aufgehört und begonnen, sich auf seinen Abgang vorzubereiten. Ein pflegeleichter Patient, der den ganzen Tag im Bett lag und sein Zimmer nur zum täglichen Hofgang verließ.
Hannele blätterte die gleichlautenden Berichte durch, bis nur noch eine dünne Plastikhülle übrig blieb. Dem Inhalt fehlte die schroffe Autorität der Gutachten und Psychose-Checklisten.
Es handelte sich um einen aufgerissenen Briefumschlag und ein paar einfache, von Hand beschriebene Zettel, vielleicht aus einem Heft gerissen. Ganz unten in der Akte, erdrückt von den offiziellen Unterlagen.
Groos zog die Zettel heraus und betrachtete sie wie ein Pokerblatt.
Ich hab alle Papiere von dem Kindermörder. Wenn Sie Interesse haben, zahlen Sie 200 Finnmark. Ansonsten verbrenne ich den ganzen Mist. Hier ist einer von seinen Briefen. Es gibt mehr davon.
Die Handschrift eines Menschen, der selten schreibt. Am Schluss die Nummer eines Festnetzanschlusses und die Unterschrift: Arttu Finne. Darunter von Jokelas Hand: Kein Anlass zu Maßnahmen .
Arttu Finne war der Vater des Kindes, das Olavi Finne getötet hatte. In der Berichtmappe war der Name entfernt worden, wie der aller anderen lebenden Beteiligten, aber in den Unterlagen des Chefarztes stand er geschrieben. Olavi Finnes Neffe hatte aus dem Mord an seinem Kind Geld machen wollen. Der Mensch war ein vergessliches und praktisch denkendes Tier.
Hannele musterte den leeren Briefumschlag. Der Poststempel war so verblichen, dass nur die Jahreszahl 1996 zu erkennen war. Die Adresse war in säuberlichen Blockbuchstaben geschrieben. Unter dem Umschlag lag ein zusammengefalteter, nahezu durchscheinend dünner Bogen. Offenbar der von Arttu Finne erwähnte Brief. Hannele entfaltete ihn.
Das Datum war der 18. September 1944.
Lieber Bruder. Ich habe Bedenken, Briefe zu schicken, weil ich nicht weiß, wie die Dinge stehen, ob die Post kontrolliert wird.
Noch einmal nahm Hannele das schwarze Heft aus dem Ordner und verglich die Symbole mit dem Brief. Wie von zwei verschiedenen Personen geschrieben. Ein ungewöhnlich dramatischer Fall der Persönlichkeitsstruktur vor und nach der Erkrankung. Und dabei ging es nicht nur um die Verständlichkeit der Zeichen. Dem 1944 datierten Brief fehlte die obsessive Präzision. An einigen Stellen war über einem Wort ein fehlender Buchstabe eingefügt worden. Die Sorglosigkeit eines gesunden Menschen, der sich nicht die Zeit nahm, über jedes einzelne Wort nachzudenken, weil er den gesamten Satz im Blick hatte. Dieser Teil von Finnes Leben war in der letzten Klarsichthülle des Ordners verstaut worden wie eine vom Fußboden aufgelesene Quittung oder ein misslungenes Foto.
Groos glaubte, den Grund zu kennen. Nach Jokelas Einschätzung war Finne bereits als Jugendlicher erkrankt. Diese Einschätzung beruhte allerdings ausschließlich auf den besonderen Merkmalen des Verbrechens, das Finne begangen hatte, und auf der Intensität seiner Krankheit zum Zeitpunkt der ersten Untersuchung. Eine rückwirkende Beurteilung, die sich auf nichts anderes stützte als auf die gelehrte Vermutung der Ärzte. Es war möglich, dass sie zutraf, aber hier war ein Beweisstück, das deutlich dagegensprach.
Kein Anlass zu Maßnahmen.
Offenbar bedeutete diese Bemerkung nicht nur, dass die Klinikkeinen Handel mit Material trieb, das die Patienten betraf. Jokela hatte die Resultate seiner psychiatrischen Untersuchung nicht korrigieren wollen. Seine Diagnosen waren immer richtig. Eine derartige Überheblichkeit hätte man ihm durchaus als Behandlungsfehler auslegen können.
Groos rutschte auf ihrem Stuhl nach vorn, um die Füße auf dem Boden aufzustellen. Dann las sie weiter.
Wir wurden für eine Spezialausbildung ausgewählt, das heißt, wir haben uns freiwillig gemeldet. Man sagt, die Ausbilder wären sehr merkwürdig, aber wenigstens sind wir aus dem Lager raus. Jetzt brauchen wir nicht mehr von sechs Uhr früh bis Sonnenuntergang herumzurennen und zu exerzieren. Es war schön, während der
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