Leichentücher: Psychothriller (German Edition)
Fahrt in aller Ruhe auf der Ladefläche zu sitzen und die Landschaft zu betrachten. Auch die Überfahrt lief glatt, obwohl der Nebel manchmal so dicht war, dass man kaum die Hand vor Augen sah. Über die Ausbildung will ich nicht viel berichten, ich kann nur sagen, dass es manchmal schwer ist, alles zu verstehen, obwohl wir einen finnischen Dolmetscher haben. Mir ist bisher nicht ganz klar, welchen Nutzen das alles haben soll, aber körperlich ist es viel leichter, auch wenn mich das ständige Reden ermüdet.
Im letzten Teil des Briefes fragte Finne besorgt, wie es seinem Bruder an der Front ergehe, und bat ihn, sich zu melden, wenn er Hilfe brauche. Der letzte Satz brach ab, die Rückseite des Bogens war leer. Groos kehrte zum Anfang zurück.
Das Datum. Wieso war ihr das nicht sofort aufgefallen?
Hannele blätterte in den Anlagen zur ersten psychiatrischen Untersuchung, bis sie fand, was sie suchte: Die Mutter Sofia Finne (geb. Ranta) meldete ihren Sohn am 5. 6. 1944 als vermisst, zog die Anzeige aber später zurück. 1945 tauchte Olavi Finne in Vaasa bei seinem Bruder Kaarlo Finne auf …
Der Brief war im September 1944 geschrieben. In dem Zeitraum, in dem in Finnes Biografie eine Lücke klaffte.
Groos lehnte sich so heftig zurück, dass der Stuhl knarrte.Zwischen den Zweigen der Birkenfeige waren Stellen von Tageslicht zu erkennen. Sie sah Jokela vor sich, der den Brief mit der Arroganz eines Provinzbeamten überflog, seinen Kommentar anbrachte und die Unterlagen archivierte, als Diktator, der er war.
Sie stand auf, den Brief in der Hand, trat an das zweite Fenster, das zugänglich war, und blickte hinaus.
Die Landschaft war irgendwie farbiger als am Vormittag, als sie mit Oberschwester Parkkonen über den Hof gegangen war. Auch das Zimmer roch nicht mehr so stark nach Jokela.
Ein Schatten blieb jedoch. Sie würde mit Finne sprechen müssen. Ihm den Brief zeigen und beobachten, wie er auf die Worte reagierte, die sein gesundes Ich Jahrzehnte zuvor geschrieben hatte. Seit ihrem Dienstantritt hatte sie noch kein einziges Patientengespräch geführt. Das war der Schatten. Die Symbole aus Finnes Heft wimmelten vor ihren Augen, als befände sich vor der Klinik ein Ameisenhaufen.
Hannele drehte sich um und ging zurück an ihren Schreibtisch. Sie zog die Schublade auf und tastete nach dem gefalteten Küchenkrepp am hinteren Rand, in dem drei kleine Pillen lagen. Zwei davon steckte sie sich in den Mund und behielt sie auf der Zunge, während sie sich aus dem Krug Wasser eingoss.
Sie schrak auf, als das Telefon klingelte. Minutenlang hatte sie einen Kratzer auf der Tischplatte angestarrt, der ihr bisher nicht aufgefallen war.
Als sie sich meldete, hörte sie ihre eigene Stimme wie die einer Fremden. Nur daran erkannte sie, dass das Levomepromazin zu wirken begann. Sie sprach beherrscht und wohlartikuliert wie immer.
»Die Therapiegruppe schafft es morgen früh nicht«, teilte Oberschwester Parkkonen atemlos mit. Offenbar eilte sie gerade irgendwohin.
»Dann beauftrage ich eine Transportfirma«, erwiderte Groos. »Ich kann nicht arbeiten, wenn es in meinem Zimmeraussieht wie in Pflanzen des Schreckens . Die Rechnung geht an die Klinik.«
Parkkonen schwieg eine Weile, bevor sie sich in das Unvermeidliche fügte.
»Ich versuche mein Bestes.«
»Tun Sie das«, sagte Groos und legte auf und griff wieder nach Olavi Finnes schwarzem Heft, das auf dem Tisch lag. Sie ließ die Seiten flitzen wie beim Daumenkino. Und plötzlich wurden die Zeichen zu einer fließenden Bewegung. Als würden hundert kleine Tiere sich winden, sich losreißen und herauskrabbeln.
20
Nach der Arbeit war Mikael mehr als eine Stunde ziellos herumgefahren. Er wäre gern in jenem Zwischenraum zwischen Klinik und Zuhause geblieben, den er bisher nie zu schätzen gewusst hatte. In dieser schützenden Blase, die sein Auto darstellte, wo alles um ihn herum wie ein Stummfilm wirkte.
Als er nach Hause gekommen war, hatten Saana und er die Wohnung aufgeräumt. Jetzt lag Saana auf dem Sofa, hatte einen Arm auf die Lehne gelegt und die Füße in Mikaels Schoß platziert. An ihren Strümpfen hing Schmutz vom Balkon, wo sie die Teppiche ausgeklopft hatte. Sie sahen sich ein albernes Fernsehquiz an. Die Quizmasterin gab sich fröhlich, aber wahrscheinlich schmiss sie nach der Aufzeichnung den Tontechnikern die Ohrstöpsel ins Gesicht, rauchte drei Zigaretten hintereinander weg und träumte von Hollywood.
Wie lautet das Geburtsdatum von Maija Vilkkumaa?
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