Leichentücher: Psychothriller (German Edition)
war zu der anderen Frau vorgedrungen, die in ihr wohnte. Sie selbst hatte die unsichtbaren Grenzen ausgelöscht.
Der Verwaltungsdirektor hatte ihr vorgeschlagen, selbst zu kündigen, und hinzugefügt, dieses Angebot gelte nur einmal. Er hatte den Pflegedienstleiter beschworen, zu schweigen, und der hatte versprochen, die Sache für sich zu behalten. Was wäre dem armen Mann auch anderes übrig geblieben. Klar aber war, dass erzwungene Loyalität irgendwann bröckelte. Wurde ein solcher Skandal vertuscht, war es, als erhielte er ein neues Leben. Irgendwann würde er auch in die Klinik Högholm vordringen, in dieses ihr noch immer fremde Dienstzimmer.
Groos nahm das Klopfen anfangs gar nicht wahr. Das Geräusch vermischte sich mit ihren Gedanken, schien aus einer früheren Zeit zu stammen.
Die Tür ging auf und Oberschwester Parkkonen trat ein, ohne die Aufforderung dazu abzuwarten. Groos blieb nicht einmal Zeit, wieder Haltung anzunehmen.
»Ich gehe jetzt«, sagte Parkkonen.
»Ja, in Ordnung«, antwortete Groos. »Ich dachte, Sie wären schon weg.«
»Sie sollten sich ein wenig ausruhen vor dem Bereitschaftsdienst.«
»Ja, das habe ich vor. Ein harter Tag.«
»Stehen Sie die Nacht durch?«, fragte Parkkonen. »Vielleicht kann auch jemand anders einspringen.«
»Nicht nötig, das schaffe ich schon«, erwiderte Groos und merkte in diesem Augenblick, dass die Schublade noch offen stand. Sie schob sie langsam zu.
Parkkonen nickte lächelnd. Ihr Mitgefühl wirkte echt, zum ersten Mal. Vielleicht könnten sie angesichts dieses belastenden Vorfalls Freundinnen werden, sich gegenseitig respektierende Kolleginnen. Vielleicht hatte die Loyalität, die Groos gegenüber dem Personal von Station A gezeigt hatte, das Eis zum Schmelzen gebracht. Oder aber es war die Tablette, die die Welt schönfärbte. Jedenfalls war es gut, den Zustand zu genießen, solange er andauerte.
Parkkonen wünschte ihr Kraft für die Nacht und schloss die Tür. Leise und geduldig, wie man es tut, wenn jemand, den man mag, gerade eingeschlafen ist.
Groos presste die Handflächen auf die Augen. Sie wollte die Tränen nicht fließen lassen.
33
Der Fall Laukkanen brachte den Dienstplan völlig durcheinander. Einige Pfleger von der Frühschicht mussten bis zum Abend bleiben, konnten aber nicht voll mitarbeiten, weil sie der Reihe nach eine knappe Stunde lang vernommen wurden. Der eine der beiden Nachtpfleger sprang ein, doch dadurch fehlte im Nachtdienst eine Kraft.
Mikael erklärte sich bereit, zusätzlich einen Nachtdienst zu übernehmen. Er gab vor, am Morgen lange geschlafen zu haben und bestimmt gut durchzuhalten. Autio sagte, Mikael solle sich nicht verausgaben, schon gar nicht, um etwas wiedergutzumachen, doch Mikael blieb dabei.
Zwischen den beiden Schichten ging er in den Umkleideraum im Keller, um Saana eine SMS zu schicken. Es brauchte drei Ansätze, bis er merkte, dass sich der Kern der Botschaft nicht verändern ließ. Ganz gleich, wie er die Worte wählte, sie würden ihre eigene Sprache sprechen. Ich lasse dich allein, obwohl ich versprochen habe, bei dir zu sein, würden sie sagen. Mikael ertrug den Gedanken nicht, löschte die Nachricht noch einmal und schrieb nur kurz: Notlage. Muss über Nacht bleiben .
Als er wieder zur Station hinaufging, hallten die Worte in seinem Kopf nach, bis die Laute ihre Bedeutung verloren.
Während des Nachtdienstes war Mikael unruhig. Er wanderte von einem Ende der Station zum anderen, überprüfte immer wieder Laukkanens Zimmer, als würde er sich nicht erinnern, was geschehen war.
Nach dem vierten Rundgang setzte Mikael sich in den Aufenthaltsraum und beschloss, dort zu bleiben. Er betrachtete das dunkle Fenster, dachte an Aulis’ zerschnittenes Gesicht, an Laukkanen, an Finnes offenen Mund, und fühlte sich gleichzeitig unendlich müde und unruhig. Die Müdigkeit hatte jene Grenze überschritten, an der sie sich in anhaltende Wachsamkeit verwandelte, in Abgestumpftheit, die den Marathonläufer dazu bringt, weiterzulaufen, bis er tot umfällt.
Die Unruhe dagegen war wachsam, quecksilberschnell. Es war wie die Unruhe eines Paranoikers. Als hätte ihm immer wieder jemand ins Ohr geflüstert: Schau von oben. Steig an die Decke, dann siehst du dich selbst im halbdunklen Aufenthaltsraum der Klinik, und du siehst, was wirklich geschieht. Steig durch die Decke hindurch. Du siehst den Rasen, wo sich das Gras noch aufrichtet an den Stellen, an denen Laukkanen herumgehüpft ist.
»Ich gehe einen
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