Leichentücher: Psychothriller (German Edition)
wunderten, dass er den Schneid besessen hatte, in der letzten Sekunde seines Lebens nicht den Kopf zu drehen. Das war das höchste seiner Ziele gewesen.
Stefus Gesicht war ernst, doch in seiner Miene verbarg sich etwas Unbestimmtes. Mikael dachte an die Möwen, die er als Kind bei einer Bootsrundfahrt durch die Schären gesehen hatte. Er hatte auf die Vögel gezeigt, die auf einer Klippe versammelt waren, und seine Mutter gefragt, was sie da taten, obwohl er es selbst sah. Sie hatten auf einem Vogeljungen herumgehackt, das seine Mutter verloren hatte. Es hatte gezappelt, seinen kleinen Schnabel aufgerissen. Die Möwen hatten unbeirrt weitergepickt, ohne sich ihr weißes Federkleid zu beschmutzen.
»Über Dienstvergehen brauchen wir nicht zu reden«, fuhr Groos fort. »Laukkanen hat die Tat offenbar zwischen zwölf und halb eins begangen. Den Vorschriften nach muss das Besteck spätestens eine halbe Stunde nach Ablauf der Essenszeit gezählt werden.«
Niemand ließ sich Erleichterung anmerken, obwohl alle genau wussten, worum es ging. Groos wollte die Information, dass das Besteck nicht gezählt worden war, für sich behalten. Sie, die sonst der große Kontrollfreak war, hatte alle überrascht. Und damit vielleicht Mikael gerettet. Seine Stellung war ohnehin bereits so wacklig, dass dieser Vorfall zu seiner Entlassung hätte führen können.
»Machen Sie sich jetzt bitte als Erstes an die reguläre Übergabe«, fuhr Groos fort, wie um sicherzustellen, dass die Pfleger begriffen, wie glimpflich sie davonkamen. »Autio kümmert sich um den Papierkram und wird euch noch befragen, wenn es nötig ist.«
»Sie können jetzt gehen«, sagte sie mit einem Blick auf Mikael.
Mikael verließ das Stationszimmer nach den Kollegen derFrühschicht und merkte, dass er an zwei Dinge dachte, die vollkommen unvereinbar waren. Das Blut auf dem Fußboden in Laukkanens Zimmer und Hannele Groos’ Atem.
Und während er in den Keller ging, um seinen Kittel holen, dachte er an Laukkanen, der nie mehr mit seinem MP 3-Player herumhüpfen würde. Laukkanen war nicht mehr, doch die Welt setzte ihren Lauf fort. Die Nachtpfleger würden schnarchen, der letzte Rest Kaffee in der Kaffeemaschine würde verdunsten und die Kanne schwarz färben, ohne dass jemand achtgab. Laukkanens Blut würde in die Erde sickern, von Wurzeln aufgesaugt werden, die es mitleidslos tranken.
Es gab Atmung nach dem Tod.
32
Hannele Groos war mit dem Todesfall Laukkanen bis zum frühen Abend beschäftigt, dann war das letzte, mehr als einstündige Telefonat mit der Klinikverwaltung beendet. Sie legte den Hörer vorsichtig auf, als fürchtete sie, das Telefon würde erneut klingeln, und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück.
Sie hatte die Deckenlampe ausgeschaltet, damit das Licht weder Parkkonen noch andere Verwaltungsschmetterlinge anzog, die vielleicht noch am Arbeitsplatz waren. Das Licht der Schreibtischlampe und der von Jokelas Pflanze gefilterte Schein der Hoflampen genügten völlig.
Groos wusste, dass sie vor dem Nachtdienst nach Hause gehen und sich ausruhen sollte, doch der Gedanke wirkte irgendwie kompliziert, schwer zu verwirklichen.
Sie zog die Schublade auf und steckte sich eine Pille in den Mund, behielt sie eine Weile auf der Zunge, als würde sie sie gleich reuevoll wieder ausspucken. Aber zu viel ist einfach zu viel, dachte sie rechtfertigend, goss abgestandenes Wasser in ihr Glas und schluckte die Tablette.
Allmählich bekam die Welt weichere Konturen. Groos dachte an die Gesichter der Pfleger in dem Moment, als ihnen aufging, dass sie Gnade vor Recht ergehen ließ. Sie war ihre Retterin. Kindische Selbstgefälligkeit, aber in ihrer Jugend waren gerade solche Lehrer beliebt gewesen, die streng waren, in brenzligen Situationen jedoch menschlich handelten. Groos machte halt, als das Bild von Mikael Siinto in ihrer Vorstellung auftauchte, und stellte es schärfer, malte sich eine Begegnungim Sommer aus, bei der man fotografierte, sich langsam betrank und die aufziehenden Gewitterwolken beobachtete. Manche Männer hatten dieses Funkeln in den Augen, andere nicht.
Groos rieb sich das Gesicht, wie um sich zu wecken. Manchmal war es schwer zu sagen, ob man wach war oder in den Schlaf driftete. Und das lag nicht an den Pillen, sondern gehörte zum Leben.
Sie goss sich noch einmal Wasser ein und versuchte, sich aufzuraffen und nach Hause zu gehen. Zu Hause, das war eine dunkle Zweizimmerwohnung, die, wie ihr Dienstzimmer auch, nach ihrem Vorgänger roch.
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