Leichentücher: Psychothriller (German Edition)
… bin nicht sicher«, antwortete Mikael und wurde sich plötzlich bewusst, dass er noch in Zivil dastand und von Weißkitteln umringt war.
»Du bist nicht sicher?«, wiederholte Helminen, der Beute witterte. »Da drinnen liegt ein blutiges Messer auf dem Boden.«
Mikael rieb sich die Augen. Er hätte gern gefragt, wie zum Teufel man mit diesen bis zur Unbrauchbarkeit abgerundeten Messern überhaupt etwas anstellen konnte.
»Vielleicht habe ich sie nicht gezählt. Ich erinnere mich nicht.«
Anklagende Stille senkte sich über den Flur. Sie wurde unterbrochen, als Hannele Groos aus dem Zimmer trat.
»Jetzt warten wir auf die Polizei«, sagte sie. In ihrem Gesicht lag ein seltsam maskenhaftes Lächeln, das ganz offensichtlichihre Aufgewühltheit verdeckte. »Allem Anschein nach hat Laukkanen es selbst getan. Selbstmord.«
»Er hier hat gestern Abend das Besteck nicht gezählt«, sagte Hagström und zeigte mit dem Finger auf Mikael, ohne diesen allerdings anzusehen.
Groos warf Mikael einen durchdringenden Blick zu.
»Aber dazwischen war noch das Mittagessen«, sagte sie. »Wer hat danach das Besteck gezählt?«
Die Pfleger sahen betreten zu Boden. Auf ihrer Station hatte seit Jahren niemand mehr das Besteck gezählt, außer vielleicht in der Spätschicht, zum Abschluss des Tages.
Groos begriff. Sie sah die Pfleger mit gespielter Verwunderung an.
»Es wurde doch nachgezählt, wie vorgeschrieben?«
»Offenbar nicht«, sagte Hagström schadenfroh.
»Na, darüber reden wir noch«, sagte Groos. »Jetzt könnte einer von euch bitte so freundlich sein, am Eingang auf die Polizisten zu warten. Helminen hat die Klinikinspektoren und den Leichenwagen bestellt, aber die Polizei untersucht den Fall zuerst.«
Ohne einander noch anzusehen, zerstreuten sich die Pfleger langsam. Mikael schämte sich. Weil er sich verspätet hatte und weil er keinen weißen Kittel trug und weil er die Messer und Gabeln nicht gezählt hatte. Ganz gleich, wem offiziell die Verantwortung zugeschoben wurde, es war klar, dass im Kreis der Kollegen Mikael als der Schuldige galt.
Hagström schubste Mikael im Vorbeigehen, nicht besonders fest, sondern so, als hätte er dessen Anwesenheit nicht bemerkt.
Laukkanens Leiche wurde zugedeckt und so unauffällig wie möglich abtransportiert. Die Patienten hatte man ins Fernsehzimmer im Frauenflügel gebracht. Zwei Pfleger standen auf dem Flur, als Blickschutz und um eventuelle Ausreißer aufzuhalten… Eine halbe Stunde nach dem Abzug der Polizei wurden die Putzfrauen in Laukkanens Zimmer geschickt. Der Fall war klar, bis auf die Frage der internen Verantwortung.
Die Chefärztin und die Oberschwester besprachen sich eine Viertelstunde lang im Stationszimmer, dann wurden Mikael und die anderen hereingerufen.
Groos saß zurückgelehnt auf Autios Lieblingsstuhl. Ihre Erschütterung war gut maskiert, lauerte aber hinter der gelassenen Miene und machte ihren Blick noch unsteter als sonst.
»Die Einzelheiten stehen hier in diesem Bericht«, fuhr Groos fort und zeigte auf eine Mappe auf dem Tisch. »Maila Viita hat Laukkanen um fünf nach halb eins gefunden. Zu dem Zeitpunkt lebte er noch, hatte sich aber schwere Verletzungen zugefügt. Das Tatwerkzeug ist ein Messer aus der Stationsküche. Der Patient starb an einer Verletzung, die er sich durch das Auge zugefügt hatte.«
»Er hat sich das Messer durchs Auge ins Gehirn gerammt«, sagte Hagström, als wäre seine Astralgestalt dabei gewesen, als es passierte.
»Nein«, widersprach Groos kühl. »Nach seiner Stellung zu urteilen, setzte der Patient die Messerspitze unter dem Augapfel an und ließ sich direkt nach vorn fallen. In Lapinlahti hat ein Patient das ebenfalls versucht, dreimal. Er hat den Kopf immer im letzten Moment abgewandt.«
Stille senkte sich über den Raum, da sich alle die Wunden des Patienten in Lapinlahti und die letzten Sekunden in Joni Laukkanens Leben vorstellten. Maila stand mit verschränkten Armen vor dem Medizinschrank und sah aus, als fröre sie. Mikaels Blick kehrte immer wieder zu Laukkanens Akte zurück.
In den Klarsichthüllen wurde ein Leben eingelagert, mit dem Klemmbügel festgehalten, und dann wurde der Ordner zugeschlagen. Vergebens hatte man Joni Laukkanen getauft, ihm Kleider angezogen, ihm beigebracht, sich den Hintern abzuwischen und zu lesen, ihn zum Jugendamt und zu Sozialarbeiternund von einem Kinderheim ins andere gebracht. Am Ende gab es nur einen Kreis von Menschen in weißen Kitteln, die sich darüber
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