Leichentücher: Psychothriller (German Edition)
Sie war nicht so dumm, dass sie der Stimme in ihrem Kopf geglaubt hätte, die ihr einreden wollte, es sei überhaupt nicht seltsam, einfach hier zu sitzen, auf den Beginn des Nachtdienstes zu warten, vielleicht bis zum Morgen sitzen zu bleiben. Das war die Tablettenstimme. Es war besser, nicht auf sie zu hören. Sie behauptete, nichts sei wirklich wichtig. Man könne gerade so gut das Fenster öffnen und sich fallen lassen. Das war Fluch und Segen des Wirkstoffs. Groos wusste genau, wie das Medikament auf neuronaler Ebene wirkte, war aber nicht bereit, Energie auf diesen Gedanken zu verschwenden. Wenn man die Pillen aus der etikettierten Dose nahm, wurden sie so klein und anonym, dass sie in der Brandung des Alltags untergingen wie Sandkörner. Etwas derart Winziges konnte kein wirkliches Problem sein. Würde man die Pillen in hohes Gras werfen, niemand würde sie finden.
Groos wusste, dass sie beim Einstellungsgespräch für den Posten der Chefärztin einen blendenden Eindruck gemacht hatte. Das war aus dem gut gelaunten Geplauder von Jokela und Parkkonen herauszuhören gewesen. Mehr als reichlich Berufserfahrung, wenn man ihr Alter in Betracht zog. Ein kühner Entschluss, von der Karriereleiter in Lapinlahti abzuspringen. Das hatte sie beim Interview gesagt, obwohl es ohnehin auf der Hand lag. Es war wichtig gewesen, den Eindruck zu erwecken, dass sie nicht vor etwas floh, sondern dass sie Mut bewies. UndJokela und Parkkonen hatten ihr geglaubt, genau so, wie sie es glauben sollten. Sie hatten keinen Verdacht geschöpft, oder keinen schöpfen wollen. Sie hatten nicht gefragt, wie ihre konkrete Arbeit mit Patienten aussah, ob sie sich vor der Begegnung fürchtete oder sie gar vermied. Wie sie sich verhielt, wenn sie in den Strom trat, der unter die Erde führte.
In Lapinlahti war der Fall schnell ans Licht gekommen. So schnell, dass Groos keine Zeit blieb, ihre Welt davon erschüttern zu lassen. Der Verwaltungsdirektor hatte seinen Ohren kaum getraut. Seinem Gesicht war anzusehen, dass er selbst nach Groos’ Geständnis noch an einen Aprilscherz geglaubt hatte.
Groos hatte keine Erklärungen angeboten. Was passiert war, war passiert. Vermutlich hatte ein Lächeln auf ihrem Gesicht gelegen, das Lächeln, mit dem sie die Welt eroberte. Man konnte immer wählen, ob man seinen Hals hinhielt oder sich wehrte. Sogar in dieser Situation.
Der Patient hatte sie seine Liebste genannt. So hätte sie die Sache vielleicht erklären können, wenn man sie dazu aufgefordert hätte. Einige hatten dieses Funkeln in den Augen, andere nicht.
Der Mann hatte seine Frau bei einem Verkehrsunfall verloren. Bei der Beerdigung war er in eine akute Psychose geraten und unmittelbar darauf nach Lapinlahti gebracht worden. Bereits beim ersten Gespräch hatte er in seiner Psychiaterin seine Frau gesehen und sie deshalb auch mit deren Namen angesprochen. Er hatte mit Verwunderung reagiert, als sie sich als Ärztin vorstellte. Warum behauptest du, mich nicht zu kennen? Tu mir das nicht an.
Die Therapiesitzungen hatten sich über mehr als ein halbes Jahr erstreckt. Groos hätte sie schon nach zwei Monaten beenden können, hatte es aber nicht getan. Sie hätte die Dosierung der Medikamente jederzeit erhöhen können. Stattdessen hatte sie sie verringert. Hätte sie sich in diesen beiden Fragen andersentschieden, wäre alles geblieben, wie es war. Sie würde auf der Karriereleiter weiter nach oben steigen, alles wäre Routine. Sie würde nicht allein in einem dunklen Dienstzimmer sitzen, süchtig eine Pille nach der anderen einwerfen und darauf warten, dass der Klatsch sie einholte und weitertrieb.
In Wahrheit aber hatte es keine Alternative gegeben, auch wenn sie noch so sehr danach suchte. Mehr als alles andere hatte sie die unbekannte, zu Grabe getragene Frau sein wollen. Sie hatte ihren Patienten nach Einzelheiten gefragt, die für die Behandlung überhaupt keine Bedeutung besaßen. Hatte auf der Webseite einer langweiligen Consulting-Firma Informationen über die Tote gefunden, die noch nicht gelöscht worden waren. Hatte versucht, sich deren Gesicht vorzustellen. Hatte vor dem Spiegel gestanden, die Haare anders frisiert, sich in die Gedankenwelt einer anderen Frau hineinbegeben.
Am Ende der letzten Sitzung hatte der Mann die unsichtbare Grenze überschritten. Er hatte den Grenzzaun nicht umgeworfen, in einem Anfall ängstlicher Wut, sondern war zu ihr gekommen, als gäbe es die Grenzen einfach nicht. Er hatte ihre Wange gestreichelt,
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