Leichentücher: Psychothriller (German Edition)
setzte sich auf und ließ die Erinnerungsbilder kommen. Sie konnten nicht schlimmer sein als das Leben an sich. Im Vergleich zu den Fragen des Lebens und des Todes war Scham ein so kindisches Gefühl, dass er sich der Regung an sich schämte.
37
»Zur Chefärztin«, kommandierte Autio, sobald Mikael das Stationszimmer betrat. »Keine Ahnung, worum es geht, aber du sollst sofort hin.«
Mikael stand noch an der Tür, er hatte nicht einmal Zeit gehabt, den Kollegen grüßend zuzunicken.
»Vor der Besprechung?«, fragte er.
»So lautet der Befehl. Wenn du zurückkommst, wird dir jemand das Briefing für den Abend geben.«
Mikael gab sich verblüfft. Er wusste nicht mehr, was er zu Hannele Groos gesagt hatte. Die Erinnerung war so verschwommen, dass er Wirklichkeit und Wahnvorstellungen nicht unterscheiden konnte.
Der Weg über den Hof zum Verwaltungsgebäude kam ihm länger vor als sonst.
»Komm nur rein«, sagte Groos, als Mikael ihr Dienstzimmer betrat.
Sie verzog keine Miene. Ihr weißer Kittel war wie ein Schutzanzug, der menschliche Störfaktoren abprallen ließ und für gleichmäßige Kühle sorgte. Mikael sah, dass ein Fremder im Zimmer saß. Er hatte ihn zuerst nicht bemerkt, denn er wirkte starr wie ein Möbelstück.
Der magere alte Mann saß links vor Groos’ Schreibtisch. Er trug einen dunkelgrauen Anzug und einen Schlips und hielt sich übertrieben gerade, als führte er permanent Krieg gegen sein Alter. Die blutunterlaufenen Augen richteten sich auf Mikael.
»Das ist Finnes Pfleger, Mikael Siinto«, sagte Groos.
Mikael trat an den Mann heran und reichte ihm die Hand. Seinetwegen hätte der Alte ruhig sitzen bleiben können, doch er stand auf und zog das Jackett gerade, bevor er Mikaels Hand ergriff und fest drückte. Seine Wangen zitterten von der Anstrengung.
»Reijo Klinge«, stellte der Mann sich vor. Seine Stimme war vom Alter gedämpft, aber fest.
»Siinto. Angenehm«, erwiderte Mikael.
Der Mann war zu alt für einen Beamten. Erst diese Feststellung machte Mikael klar, wie ernsthaft er mit einer offiziellen Verwarnung, vielleicht sogar mit einer Anklage wegen Dienstvergehens, mit der Entlassung gerechnet hatte.
»Herr Klinge hat sich schon mehrfach mit uns in Verbindung gesetzt«, sagte Groos und sah Mikael bedeutungsvoll an. »Er möchte mit Olavi Finne sprechen«, fügte sie hinzu. »Ich hatte dir ja von den früheren Kontaktaufnahmen erzählt. Von den Telefonaten.«
»Richtig«, sagte Mikael.
Dann wandte Groos sich an den Mann. »Sie möchten also Finne besuchen und mit ihm über Ihre gemeinsame Vergangenheit sprechen.«
»Ja.«
»Sie wissen bestimmt, dass in der Regel nur enge Angehörige Besuchsrecht erhalten.«
»Natürlich weiß ich das.«
Groos schwieg einen Moment, bevor sie fortfuhr. »Ich werde gemeinsam mit Finnes Pfleger entscheiden, ob wir Ihnen das Besuchsrecht dennoch zubilligen können.«
»Das ist doch nur Bürokratie«, schnaubte der Mann. »So viel weiß ich in meinem Alter.«
»Aber wir müssen wirklich genau abwägen, was dem Wohl des Patienten dient und was nicht.«
»Ich war in jungen Jahren Finnes bester Freund. Sein einzigerFreund. Er ist in einer beschämenden Lage hier unter den … Irren. Das ist nicht der richtige Ort für einen Mann seines Kalibers.«
Mikael betrachtete den hochmütig in den Nacken gelegten Kopf des Mannes, sein Profil, die leberfleckige Haut. Er versuchte, sich vorzustellen, wie der Mann in jungen Jahren ausgesehen hatte, versuchte, ihn zusammen mit Finne vor Jahrzehnten in einer unbekannten Umgebung zu sehen. Konnte es wahr sein? Hatte Finne mit diesem Mann gesprochen wie ein Gesunder, Zukunftspläne geschmiedet, von seiner neuesten Flamme erzählt? Alles in ihm sträubte sich gegen diesen Gedanken.
»Was meint der zuständige Pfleger?«, fragte Groos und sah Mikael an. Ihre Lider flatterten kurz. Nur daran war zu erkennen, dass zwischen ihnen ein dichtes Netz der Verwirrung lag.
»Tja«, begann Mikael und sah Klinge an. »Als Pfleger habe ich natürlich das Wohl des Patienten im Sinn, und in Finnes Fall sind nur die allernotwendigsten Besuche gestattet. Er ist sehr krank und …«
»Mann, hören Sie auf«, fiel Klinge ihm ins Wort. »Mein Besuch ist sehr wichtig. Ich bin viele Hundert Kilometer weit gereist und werde nicht mit eingezogenem Schwanz abziehen wie ein …«
In seiner Aufregung brachte er den Satz nicht zu Ende.
»Besuche müssen immer im Voraus vereinbart werden«, wandte Groos behutsam ein. »Man kann nicht
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