Leichentücher: Psychothriller (German Edition)
einfach so hereinschneien.«
»Ich habe mehrfach angerufen«, erwiderte Klinge und unterstrich seine Worte mit fahrigen Handbewegungen. »Kommen Sie mir nicht mit irgendwelchen Bestimmungen, wertes Fräulein.«
Mikael sah, dass Groos sich auf die Lippe biss. Sie war es wohl nicht gewohnt, eine solche Schnoddrigkeit zu schlucken.
»Jedes Mal dasselbe Geschwätz, dasselbe Wenn und Aber. Sie spielen mit dem Leben der Menschen.«
Drohgebärden eines zahnlosen Löwen, dachte Mikael. Er wollte diesen Kerl nicht an Finne heranlassen. Mit Reijo Klinge stimmte etwas nicht, das war unverkennbar. Mikael hatte es sofort gespürt, als er den Raum betrat.
»Wenn es sich tatsächlich so verhält«, sagte er betont sachlich, »brauchen wir einen Beweis dafür, dass Sie und Finne sich nahegestanden haben.«
Der Mann zitterte und sah Mikael ins Gesicht. Dann stand er mühsam auf, zog das Jackett aus und legte es über die Stuhllehne.
Er wird mich doch nicht etwa angreifen? , dachte Mikael. In seinem noch immer verkaterten Zustand hielt er das durchaus für möglich. Ein ungleicher Kampf im Chefarztzimmer. Er wusste, dass sein Gegner ein alter, schwacher Mann war, und dennoch stockte ihm der Atem.
Klinge blieb stehen und rollte den linken Ärmel auf, enthüllte einen mageren Arm und einen faltigen Ellbogen. Er hob langsam den Arm, schwankte dabei bedenklich nach links und presste den Zeigefinger auf die schlaffe Haut zwischen Achsel und Ellbogen.
Mikael sah nur einen dunklen Fleck. Er dachte an ein Muttermal, an ein Melanom, doch der Fleck war seltsam symmetrisch. Eine Zahl , sagte eine innere Stimme.
»Was ist das?«, fragte Groos. Sie spähte über ihren Schreibtisch, als wollte man sie von einer außerordentlich wichtigen Angelegenheit ausschließen.
»Das«, verkündete Klinge stolz, »ist das Heldenzeichen.«
Mikael setzte eine undurchdringliche Miene auf, wie er es immer tat, wenn Patienten unverständliches Zeug redeten. Fast musste er lachen. Ein Held? Ein Greis, der andere zurechtstauchte, die noch mitten im Leben standen, die, voller Leben und Geilheit, im Umkleideraum der Klinik vögelten, in der Annahme, dass es sich nicht lohnte, den Moment zu achten, weil noch so viele folgen würden.
»Das ist ein A«, sagte Klinge und sah Groos an. »Meine Blutgruppe.«
Mikael spürte wachsende Verärgerung. Plötzlich wünschte er sich geradezu, dass der Mann ihn angriff. Er würde den Alten bändigen, würde ihm dabei aber den Arm ein paar Zentimeter mehr verdrehen als nötig.
»Können Sie das etwas genauer erklären?«, bat Groos und kniff die Augen zusammen.
»Gebirgsjäger der SS -Division Wiking«, sagte Klinge.
Mikael lachte auf, wurde sich dessen erst bewusst, als er Groos’ wütenden Blick auffing. Sie hätte ihn sicher gerügt, wenn sie Gelegenheit dazu gehabt hätte.
»Und das bedeutet?«, fragte Groos.
»Grundausbildung in Taarstad und Noringsdorf im August neunzehnhundertvierundvierzig. Spezialausbildung in Berlin-Lichterfelde Anfang September. Stationiert in Polen im Oktober …«
Mikael betrachtete das todernste Gesicht des Mannes und hegte immer noch den Verdacht, dass es sich um einen groben Scherz handelte. Autio und Groos hatten beschlossen, ihm sein betrunkenes Geschwätz heimzuzahlen. Vielleicht stand die ganze gestrige Tischrunde feixend an der Tür. Womöglich auch die Ausländer aus dem Pub. Alles war hinter seinem Rücken organisiert wurden. Groos hatte weitererzählt, dass ihm Tränen gekommen waren, als sie sich geliebt hatten. In der nächsten Sekunde würde die Tür aufgestoßen, das Gelächter würde von den steinernen Wänden hallen. Verdammter Idiot. Wir wissen Bescheid .
»War Finne Ihr …«, versuchte Groos den Mann zu unterbrechen.
»Nach der Kapitulation Deutschlands war ich in Gefangenschaft in Kongsvinger und Stockholm«, fuhr Klinge fort. »Als ich dann nach Finnland zurückkehrte, folgten Verhöre und Geheimniskrämerei und ständige Ungewissheit wegen der russenfreundlichenstaatlichen Polizei. Jahrzehntelang kein Wort des Dankes, obwohl wir dort gewesen waren, um ganz Europa vor der Anarchie der Russenmongolen zu schützen.«
Groos saß wie erstarrt da und sagte kein Wort. Mikael spürte, dass sie nicht an einer Intrige beteiligt war. In diesem Moment tippte der Mann noch einmal trotzig auf seine Tätowierung, dann rollte er den Ärmel herunter.
Du lügst , dachte Mikael.
»Nach der Grundausbildung fuhren wir im Laderaum eines Frachtschiffs nach Hamburg und einen Monat
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