Leichentücher: Psychothriller (German Edition)
Schadenfreude und Mitgefühl sah. Er nahm seine Jacke und ging über die leere Tanzfläche. Seine Schritte waren unsicher, am Ausgang stolperte er über die Schwelle und wäre beinahe der Länge nach auf der Straße aufgeschlagen. Er blieb einen Moment stehen und sah die leere Miene des Türstehers.
Draußen suchte er in beiden Jackentaschen nach seinemHandy. Er spürte es durch den Stoff hindurch, bekam es aber erst nach einigem Bemühen zu fassen. Er suchte die Nummer seiner Station heraus und drückte auf die Anruftaste.
Es klingelte lange. Mikael ging weiter, blieb stehen, hielt sich am Geländer an der Bushaltestelle fest. Das kalte Metall schmerzte seine Finger, doch er achtete nicht darauf. Wichtig war nur, dass der Klingelton nicht abbrach. In Mikaels Kopf rauschte es. Die Kollegen vom Nachtdienst konnten doch nicht so tief schlafen, dass sie das Telefon nicht hörten. Irgendetwas gab ihm das Gefühl, als wäre auf Station etwas passiert. Vielleicht war jemand umgebracht, ausgeweidet und in Lakenstreifen gewickelt worden. Olavi Finne lag auf dem Rücken im Bett, seine großen Augäpfel bewegten sich nicht, während Hannele Groos seinen Schwanz rieb, seine Pupillen sind wie pechschwarze Magneten auf Jahrtausende zurückliegende Orgien fixiert.
»Klinik Högholm, Station A.«
Groos’ Stimme. Welch ein Zufall. Was tat sie auf der Station. Hielt sie den Hörer in derselben Hand, mit der sie den Penis des Alten masturbiert hatte?
»Mikael hier, hallo«, sagte er und versuchte, nicht zu lallen. Vor Anstrengung fand er keine weiteren Worte.
»Bist du betrunken?«
Groos’ Stimme klang konsterniert und zugleich belustigt.
»Ich ruf nur an, um zu fragen, ob alles in Ordnung ist. Ich habe Finnes Zahlen gehört …«
»Was?«
»Die Zahlen«, wiederholte Mikael. »Finnes Zahlen, von denen er immer quasselt. Ich habe sie gerade gehört, beim Quiz in der Kneipe. Da dachte ich, dass …«
Zum ersten Mal, seit er den »Alten Meister« verlassen hatte, wurde er unsicher. Die Sache war klar, sie war zweifellos wichtig, er spürte ihr Gewicht auf dem Brustkorb, sie hatte sein Blickfeld eingeengt. Aber wie sollte er sie erklären? Der logischeZusammenhang, der ihn zu dem Anruf veranlasst hatte, schwand dahin, als er ihn hätte benennen müssen.
»Alles ist in bester Ordnung«, erwiderte Groos, als Mikael außer einem betrunkenen Stammeln nichts mehr herausbrachte. »Sieh zu, dass du nach Hause kommst, dann geht es dir bald besser. Musst du morgen nicht arbeiten?«
Mikaels Ratlosigkeit verwandelte sich in Wut. Was sollte diese verdammte Fürsorglichkeit? Sie redeten hinter seinem Rücken über ihn. Redeten über Aulis’ Verletzungen. Über Saana.
»Geh nach Hause«, sagte Groos. In aufreizend herablassendem Ton. So sprach sie sonst mit Patienten.
»Was treibst du eigentlich mit dem Alten?«, hörte Mikael sich fragen.
»Wie bitte?«
»Nimm dich vor dem Kerl in Acht. Das sag ich dir, ganz egal, wie oft du im Keller mit ihm vögelst.«
Einen Moment lang war es still, dann wurde aufgelegt.
Mikael schloss die Augen und versuchte, das Bild des Umkleideraums heraufzubeschwören und zu erkennen, wer die Gestalten waren, die sich dort bewegten. Zwei zeitlose Schatten.
»Ich weiß Bescheid …«, sagte er in das Tuten hinein.
Langsam kam ihm zum Bewusstsein, dass er Worte ins Telefon stammelte, die er gleich wieder vergaß. Dass dieses Gespräch nicht in seinem Kopf stattfand.
Schwankend betrachtete Mikael das Display. Die Trunkenheit raubte ihm das Gleichgewicht. Schwer ließ er sich auf die Bank der Haltestelle fallen, schlug mit dem Kopf gegen die Scheibe und fluchte. Er dachte an Olavi Finne und seine verdammten Augen. An die ausgestreckte Hand, an die beiden Finger, die seinen Adamsapfel berührt hatten.
Irgendwann tauchte wie aus dem Nichts Autio auf, tätschelte ihm die Wange und quasselte belangloses Zeug, während erMikael zu einem Taxi brachte. Mikael stieg ein, nannte die Adresse und legte den Kopf in den Nacken.
»Wenn du kotzt, kostet es einen Hunderter extra«, sagte der Fahrer, bevor er losfuhr. Mikael hatte das Gefühl, von einem bleischweren Gewicht erdrückt zu werden. Die Lichter flackerten am Rand seines Blickfelds wie in einem unterirdischen Tunnel.
Am Morgen erwachte Mikael davon, dass jemand seine Wange streichelte. Er drehte sich um und betrachtete die gewölbte Bettdecke neben sich, bis er begriff, dass es Saana war. Hatte sie ihn gestreichelt? Oder war es ein Traum gewesen?
Mikael
Weitere Kostenlose Bücher