Leichentücher: Psychothriller (German Edition)
geredet? Oder Angstzustände gehabt?«
Wieder schnaubte Klinge, diesmal heftiger. Als er die Schultern zuckte, rollte ihm eine Träne über die linke Wange. Er schien es nicht zu merken.
»Olavi war … ist …«
Die Worte klangen heiser, blieben ihm im Hals stecken. SeinKinn zitterte. Weitere Tränen. Groos ließ die Stille qualvoll lange stehen.
»Entschuldigen Sie, aber …«, sagte sie schließlich und suchte nach Worten. »Ich würde gern unter vier Augen mit Finnes Pfleger sprechen. Sie können solange draußen warten. Wenn es recht ist.«
Klinge wischte sich mit dem Handgelenk über die Wangen und stand ebenso schwerfällig auf wie zuvor. Mikael wusste, dass er ihm seine Hilfe hätte anbieten sollen, doch er brachte es nicht über sich. Und der Mann hätte sie ohnehin nicht angenommen, das stand fest.
»Fünfzehn Minuten«, sagte Klinge, als erteilte er Rekruten einen Befehl, und ging zur Tür.
»Wir holen Sie, wenn es so weit ist«, antwortete Groos.
Als die Tür ins Schloss fiel, warf Groos Mikael einen auffordernden Blick zu. Er wusste nicht, wo er anfangen sollte.
»Tut mir leid, der Anruf gestern.«
»Schon gut«, antwortete Groos und betrachtete ihre Fingernägel.
»Und was passiert ist …«
»Es ist nichts passiert.«
Groos hörte sich an wie ein Beamter des KGB oder der argentinischen Junta, der sich verdammt sicher fühlen durfte, weil alle Beweise verbrannt und die Zeugen erschossen worden waren.
»Was willst du von mir?«, fragte Mikael.
»Deine Meinung über Klinge«, antwortete Groos. »Wir sind im Dienst. Im Dienst geht es um dienstliche Angelegenheiten.«
Mikael sah sie an, versuchte, ein Flackern der Augen, ein Zucken der Mundwinkel zu entdecken. Nein, Hannele Groos war jetzt im Dienst. Dinge, die die Welt anderer Menschen erschütterten, waren für sie Routine, Amtspflichten des Lebens. Wenn sie abgeheftet waren, brauchte man nicht mehr auf sie zurückzukommen.
»Na gut. Der Mann redet Mist«, sagte Mikael und schlug die Augen nieder.
»Wieso?«, fragte Groos. »Die Daten kommen hin. Das Alter passt. Damals sind viele junge Männer nach Deutschland gegangen. Vor allem diejenigen, deren Vater an der Front gefallen war.«
»Das heißt aber nicht … Jeder kann behaupten …«
»Klar«, unterbrach ihn Groos. »Aber warum sollte jemand auf diese Idee kommen?«
»Woher soll ich das wissen? Was er gesagt hat, beweist jedenfalls gar nichts.«
Groos stand auf und holte einen Ordner aus dem Regal. Zog aus einer der Klarsichthüllen einen Bogen Papier heraus, so dünn, dass das Licht hindurchschien.
»Was ist das?«, fragte Mikael.
»Finnes Brief«, antwortete Groos. »Sieh dir das Datum an.«
Mikael beugte sich vor.
»Jokela hat ihn offiziell nie zur Kenntnis genommen.«
Mikael nahm den Bogen und las. Nach jedem Satz kehrte er an den Anfang zurück, ohne genau zu wissen, wonach er suchte. Nach irgendeinem Fehler, einem logischen Widerspruch.
Groos nahm den Bogen wieder an sich.
»Die Sache wirkt also ziemlich überzeugend«, sagte sie und klappte den Ordner zu. »Auch die Ausbildung wird erwähnt.«
Mikael seufzte und hob die Hände.
»Aber Finne ist … anders. Kein Soldat«, wandte er ein und versuchte, seine Gewissheit zu vermitteln, ohne alles preisgeben zu müssen. »Er ist anders. Was er sagt, ist …«
»Meinst du beispielsweise gewisse Zahlen?«
Mikael blickte auf. Seine Hände verharrten in der Luft. Groos’ Miene war erbarmungslos, ihr Blick wachsam wie beim ersten ärztlichen Gespräch mit einem frisch eingelieferten Patienten.
»Autio hat mir vom gestrigen Abend erzählt. Dass du plötzlichabgehauen bist, als ein Streit wegen irgendwelcher Spielernummern aufkam. Er meinte, du hättest wohl einen Schreck gekriegt, weil es so aussah, als würde es zu Handgreiflichkeiten kommen. Und mir hast du am Telefon auch von irgendwelchen Zahlen erzählt, falls du dich erinnerst.«
Mikael gab keine Antwort, legte nur die Hände auf die Schenkel.
»Das ist eine alte Geschichte, hörst du?«, sagte Groos und suchte Blickkontakt. »Die Zahlen betet er herunter, seit er hier eingeliefert wurde.«
Mikael schluckte. Er hätte gern widersprochen, wusste aber nicht, wie.
»Und was sind das für Zahlen?«, fragte er und merkte, dass seine Stimme rau geworden war.
»Spielernummern.«
»Was zum Teufel soll das heißen!«, fauchte Mikael.
»Die Helden der finnischen Nationalmannschaft bei der Eishockey- WM fünfundneunzig. Im Endspiel. An dem Abend hat Finne den Jungen
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