Leichentücher: Psychothriller (German Edition)
Fenster zu hören, aber die Worte waren nicht zu verstehen.
Die Blicke wandten sich vom Stationszimmer ab, als Stina aus dem Frauenflügel gehuscht kam. Sie war noch greller geschminkt als sonst, vielleicht wegen all des Geschreis und Getöses. Sie setzte sich auf ihren üblichen Platz zwei Meter vor dem Fernseher. Mikael starrte ihr direkt in die Augen, auch dann noch, als das anzügliche Kichern einsetzte. Stina schob hastig ihren BH zurecht, kicherte dann weiter.
Mikael betrachtete den Fernseher. Die Digibox streikte wieder einmal. Auf dem Bildschirm war die exotische Echse aus einem Naturfilm auf ihrem Ast erstarrt. Zerstreut überlegte Mikael, wie lange das Bild schon stehen mochte.
Dann ging plötzlich die Tür zum Stationszimmer auf und Hannele Groos kam mit langen Schritten heraus.
»… aus dem Medizinschrank verschwindet«, war Autio gerade noch zu hören. Mikael hätte gerne gehabt, dass die Tür einige Sekunden früher aufgegangen wäre, sodass er den ganzen Satz gehört hätte. Im Leben kam es auf Sekundenbruchteile an, in denen sich Zufälle ereigneten.
Autio hob den Ordner auf, in dem Groos geblättert hatte, vermutlich Finnes Unterlagen, warf ihn dann frustriert wieder auf den Tisch.
»Wer deckt den Tisch fürs Abendessen?«, fragte er die vor dem Fernseher versammelte Schar.
Niemand antwortete. Stina fand das ungemein lustig. Das Lachen verzog ihre überstark geschminkten Augen zu tränenden, zitternden Strichen.
Eine Viertelstunde bevor sein Dienst zu Ende war, ging Mikael noch einmal zum Isolierzimmer und warf einen Blick auf Finne. Der Alte lag mit aufgerissenem Mund im halbdunklen Zimmer. Seine Augen waren geschlossen, die Arme hatten es aufgegeben, an den Gurten zu zerren.
Wie erstarrt schien er auszuharren, bereit für den Sensenmann. Nur die Zunge bewegte sich. Sie regte sich wie eine große schaumbedeckte Schnecke.
Mikael presste das Ohr an die Scheibe und lauschte. Doch Finne sprach zu leise und zu langsam, und Mikael konnte kein Wort verstehen.
40
Mikael betrat die Diele, schleuderte die Schuhe von den Füßen, war zu müde, den Mantel auszuziehen. In der Wohnung war es dunkel. Mikael wollte die Dunkelheit nicht zerstören. Er ging ins Wohnzimmer und sah Saanas Gestalt in der Sofaecke. Eine dunkle Silhouette.
»Hallo«, flüsterte sie.
Mikael ließ sich neben ihr auf das Sofa fallen und betrachtete die in der Finsternis wimmelnden Punkte. Er hatte nicht die Kraft, zu fragen, warum sie im Dunkeln sitzen sollten. Es war schon gut so.
»Ist es nie genug?«, fragte Mikael.
Saana antwortete nicht, legte nur den Arm um seine Schultern. Niemand anders verstand ihn auf diese Weise, ohne Fragen und sofort, niemand würde ihn je so verstehen. Mikael legte den Kopf an Saanas Hals und weinte tränenlos.
In der Nacht erwachte Mikael in völliger Finsternis und war sicher, dass der Strom ausgefallen war, denn anders konnte er sich die völlige Schwärze nicht erklären.
Seine Hand tastete in der anderen Betthälfte nach Saana. Sie war nicht da, obwohl sie miteinander geschlafen hatten, zum ersten Mal seit über einem Jahr. Leere unter der Decke, als wären die Knochen zu Asche geworden und hätten nur stoffartige, trockene Haut zurückgelassen. Das war unfair. Saana durfte nicht so gehen, ohne Erlaubnis, durfte ihn nicht in dieser Sinnlosigkeit zurücklassen.
Die Tränen schmeckten dick und modrig, als Mikael sich aufsetzte und den Kopf in der Dunkelheit hin und her drehte. Er merkte allmählich, dass seine Zunge sich instinktiv bewegte, etwas aus der Kehle schieben wollte. Kleine, feuchte Klumpen, die nicht dorthin gehörten. Er würgte und steckte den Finger in den Mund, kratzte hysterisch über das Zahnfleisch und spuckte etwas aus. An seinen Fingern klebten rosinengroße Ovale, und er brauchte kein Licht, um zu sehen, wie sie zerfielen, wie die durchsichtigen Flügel und die haarfeinen Beine sich von den schwarzen Körpern lösten.
Mikael erwachte in Embryonalstellung. Sein Kissen war nass von Tränen und Speichel.
»Keine Angst«, flüsterte Saana. »Es ist genug.«
Mikael schüttelte den Kopf, versuchte zu begreifen, wo er war.
»Dir ist nichts genug.«
41
Den nächsten Nachtdienst hatte Mikael zusammen mit Stefu. Es war leicht, die Konversation auf ein Minimum zu beschränken. Nach ein paar unwirschen Sätzen zog Stefu sich mit einem Packen Zeitschriften in seinen Flügel zurück.
Mikael blieb nicht an der Tür des Isolierzimmers stehen, ging nicht einmal daran vorbei. Er
Weitere Kostenlose Bücher