Leichte Turbulenzen - Roman
Nathalie zu erreichen. Doch sie war nicht mehr dazugekommen. Heiner hatte nur einen Augenblick die Beherrschung verloren. Am Seeufer hatte er Veronika bittend an den Armen gepackt, um ihr ins Gewissen zu reden, das gemeinsame Geheimnis für sich zu behalten. So hatte Tamara es Nathalie damals mit zittriger Stimme berichtet. »Natti, verzeih mir. Ich konnte es nicht länger mit mir herumtragen. Jetzt, wo sich meine Mutter und dein Vater neu kennenlernen …« Nathalie hatte diese Frau, die sie ihre gesamte Jugend über als Konkurrentin empfunden hatte, in den Arm genommen und gehalten. »Schschsch, es ist gut so. Es ist gut.«
Heidi ahnte nichts. Genauso wenig Walter.
Nathalie und Tamara würden das Vergangene für sich behalten. Darauf hatten sie sich geeinigt. Was brachte es, die schmerzvolle Wahrheit aufzudecken? Würde die Tatsache, dass ihre Mutter sich nicht das Leben genommen hatte, etwas für Ivy ändern? Warum sollte sie ihrer kleinen Schwester den Vater nehmen und durch einen längst verstorbenen ersetzen? Nathalie drängte sich näher an Peer heran und drehte ihren Kopf nach hinten, um ihm in die Augen sehen zu können. Sie flüsterte: »Warum haben nicht alle Frauen so viel Glück wie ich?«
Peer legte seine Arme fest um Nathalies Oberkörper. Er hatte sie vermisst. All die Monate, in denen er sich nicht getraut hatte, ihr offen zu erzählen, wie verzweifelt Jenny bemüht gewesen war, sich zurück in sein Leben zu drängen, indem sie ihn mit Nachrichten und hilflosen Androhungen bombardiert hatte.
»Es tut mir leid, dass ich uns nicht zugetraut habe, dass wir diese Sache gemeinsam bewältigen.«
Nathalie umklammerte seine Hände. Ihr Ringfinger war nackt. »Nein, mein Liebling. Mir tut es leid, dass ich dir nicht vertraut habe. Und ich schäme mich dafür.«
Kurz vor neun stieg Walter in den ICE nach Berlin. Er setzte sich auf den ersten freien Platz im Großraumabteil und blickte hinaus auf den sonnigen Bahnsteig, auf dem Heidi lächelnd die Hand hob. Sie sah müde, aber dennoch fröhlich aus. Ihre hellblauen Augen strahlten, von der Gartenarbeit war ihre Haut schon wieder sanft gebräunt, was im Kontrast zu ihrem weißgrauen Haar schön aussah, das sie kinnlang trug. Walter hob die Hand und nahm sie erst wieder herunter, als der Zug ruckend anfuhr. Bis spät in die Nacht hatten sie in der Küche gesessen und geredet. Darüber, warum sie beide beflissen über den Fakt hinweggesehen hatten, dass Tamaras jüngste Tochter aussah, als sei sie Ivy wie aus dem Gesicht geschnitten. Weiter und weiter waren sie in die Vergangenheit zurückgegangen und hatten, sich an den Händen haltend, eingestanden, was all die Jahre offensichtlich vor ihnen gelegen hatte. Walter hatte es längst gespürt: Ivy war nicht sein Kind. Natürlich hatte er geahnt, dass seine Frau mit Heiner schlief. Möglichkeiten hätte es genug gegeben, das offenkundige Auseinanderdriften anzusprechen und zu versuchen, es aufzuhalten. Damals, als junger Mann, hatte er es aber nicht einsehen wollen, dass ausgerechnet seine Frau sich von ihm abgewandt hatte. Ihm waren seine Arbeit und der Zaun um die Schaafweide wichtiger gewesen. Vielleicht war ihm der Preis, für seine Frau das Leben im Wendland aufzugeben und in die Stadt zurückzukehren zu hoch gewesen.
Und doch hatte er sie geliebt. Mehr, als er es jemals für möglich gehalten hätte. Noch heute verging kein Tag, an dem er nicht an Veronika dachte und sich wünschte, sein Abgewandtsein gutzumachen. Er sah sie lachend im Garten stehen, ihr kupferrotes, lockiges Haar wehte. Im Herbst. Unter dem purpurnen japanischen Ahorn. Wie eine Corona hatten sich ihre Haare in der Sonne glühend um ihren Kopf gelegt. Er hatte ihr gemeinsames Leben als zu selbstverständlich hingenommen.
Ihn fröstelte.
Wie sie im Haus unermüdlich die Treppen hinauf- und hinuntergelaufen war. Gelaufen, gelaufen, gelaufen. Um für alle da zu sein. Das Leben hatte sich um seine Frau formiert. Als hätte sie es angelockt. Und wenn sie oben im Giebelzimmer gestanden und gezeichnet hatte, begannen die Jelängerjelieber draußen rund um den Fensterrahmen aufzublühen. Viel zu selten war er oben bei ihr gewesen, um zuzuschauen, wie ihre Hand sicher einen Strich nach dem anderen vollzogen hatte, um ihre eigene, stimmige Märchenwelt vor ihren Augen und denen der Mädchen entstehen zu lassen. So viel Wunderbares, was sie gesehen hatten, hatte er nicht bemerkt.
Walter atmete tief ein.
Die frühlingshafte Landschaft flog
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