Leichte Turbulenzen - Roman
nicht dazugekommen, sie wegzuschmeißen. Meinst du, ich lasse so was freiwillig bei mir herumliegen?«
Ivy fühlte sich mit einem Mal sehr wohl. Nichts an diesem Javis war anbetungswürdig. Irritierend war nur, dass sie es jetzt erst merkte. Er zündete sich eine neue Zigarette an und starrte ungläubig auf Ivys Plastiktüte.
»Sag mal, brauchst du nicht mal eine neue Handtasche? Kann dir dein Mann nicht mal eine schenken? Irgendwas Geflochtenes von Bottega Veneta. Was ist denn das für ein Trottel, der dich noch immer mit einer Plastiktüte rumrennen lässt?«
»Ja, er ist ein sehr großer Trottel. Ich werd’s ihm ausrichten.« Ivy drehte sich mit einem ergebenen Lächeln um, verließ das Zimmer und ging die Treppe hinunter, den Flur entlang bis zur Eingangstür, wo ihre gelbe Regenjacke über den Schirmständer gebreitet hing. Seelenruhig zog sie ihre Gummistiefel an, verstaute die Ballerinas in der Tüte und wandte sich dann ganz gefasst zu Javis um, der einige Schritte von ihr entfernt stehen geblieben war. »Ich geh dann mal.«
»Eigentlich«, sagte er »eigentlich bist du gar nicht so übel, Ivy. Vermutlich bist du sogar richtig cool. Ich hab’s nur nicht geschnallt. Wahrscheinlich hab ich einen echten Fehler gemacht, als ich dich damals verlassen habe. Tja. Mit der Gewissheit muss ich jetzt leben.«
»Na dann.« Ivy hob die Hand. »Vielen Dank. In jedem Fall wünsche ich dir und deiner Frau alles Gute.«
Ivy fasste nach der Klinke und zog die Tür auf. Die kühle Nachtluft floss über ihr erhitztes, jetzt sehr fröhliches Gesicht, als sie sich ein letztes Mal zu ihm umdrehte. »Javis, eine Sache wollte ich dir noch sagen«, Ivy machte eine Pause, in der ihre Augen regelrecht anfingen zu strahlen. »Du bist ein ganz schlechter Schauspieler.«
In der Manteltasche vibrierte ihr Handy. Javis öffnete den Mund, aber es kam kein Laut heraus. Ivy winkte ihm aufmunternd zu und zog im Hinausgehen ihr Telefon hervor. Ohne sich noch einmal zu dem Mann umzudrehen, der ihr Jahre zuvor so viel Kummer bereitet hatte, fiel hinter ihr die Tür ins Schloss. Er hatte keine Macht mehr über sie. Wie dumm und blind er doch war. Javis hatte es ganz richtig erkannt. Er würde es niemals schaffen, glücklich zu werden. Dafür verabscheute er sich und die Welt viel zu sehr. Inzwischen hatte es aufgehört zu regnen. Die regengesättigte Luft war frisch und klar. Dicht über dem Asphalt hingen feine Nebelschwaden. »Natti?«
Ivy trat aus dem Vorgarten hinaus auf die Straße und machte sich mit dem Telefon am Ohr auf, Richtung Underground, um mit der Circle Linie nach Hause zu fahren. Am anderen Ende der Leitung hörte sie ihre Schwester fragen: »Störe ich dich gerade?«
Ivys Schritte machten leise Patschgeräusche. »Nee, ich laufe gerade die Straße runter. Was gibt’s?«
Ganz ruhig und gefasst sagte Nathalie: »Ich hatte mit allem recht.«
14.
Nathalie schlug die Augen auf und blinzelte. Durch die Fensterfront, die hinaus auf die mit blühenden Pflanzenkübeln vollgestellte Dachterrasse führte, drängte sich das frühlingshafte Vormittagslicht. Gestern Abend hatte sie sich gar nicht mehr die Mühe gemacht, ins Bett zu gehen, nachdem sie das Handy ausgeschaltet und auf das weiß lackierte Beistelltischchen gelegt hatte. Sie nahm ihre Armbanduhr hoch, die neben ihrem Kopf auf dem roten Polster lag, und hielt sie sich dicht vor die Augen. Acht Uhr zehn war es. Irgendetwas hatte sich verändert. Irgendetwas Großes, etwas Welterschütterndes war in ihrem Leben vorgefallen. Nichts war mehr so, wie es einmal gewesen war. Der schwere Fels der Unsicherheit, der all die Monate niederdrückend auf ihr gelastet hatte, war von ihr genommen worden. Die nackte Wahrheit breitete sich in ihrer gläsernen Schönheit vor ihr aus. Zum ersten Mal seit Langem gab es keine offenen Fragen mehr, keine Mutmaßungen, keine Vorahnungen, nichts Bedrohliches enterte ihre Gedanken. Klar und deutlich sah sie ihre Lebenssituation vor sich. Endlich hielt sie alle Fäden in der Hand. Sie hatte alles unter Kontrolle. Der einzige quälende Faktor war aus ihrem Leben verschwunden. Die Angst vor Verlust.
Nathalie blieb auf der Seite liegen, rieb sich die Augen, und es dauerte, bis sie sich wieder ganz aus dem Albtraum der vergangenen Nacht in den Tag hineingeschraubt hatte, in ihr Familienwohnzimmer. In ihrem Traum hatte nichts mehr am angestammten Platz gestanden. Die Bilderrahmen waren von den Wänden gerissen, die Sofakissen lagen über den Boden
Weitere Kostenlose Bücher