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Leichte Turbulenzen - Roman

Leichte Turbulenzen - Roman

Titel: Leichte Turbulenzen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. Bertelsmann
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lassen, wenn man gerade mal elf Jahre alt ist.«
    Ivys Blick fiel auf Javis’ Lederschuhe, die bestimmt ein Vermögen gekostet hatten. Von welchen erlittenen Schmerzen in der Anfangszeit sprach er denn? Wusste er gar nicht, dass sich ihre Mutter das Leben genommen hatte? Ivy konnte sich beim besten Willen nur daran erinnern, wie sie andauernd von ihm gedemütigt und beschimpft worden war. Wessen Erinnerung war denn am Ende nun verzerrt? Ihre oder seine? Sie sah dicht am weißen Fensterkreuz vorbei hinaus in den dunklen Garten, der hinter dem Haus lag. Eine Laterne erhellte die schmale, von Mauern umgebene Grünfläche, in der ein einsamer Baum stand, an dessen Ast eine tropfnasse Kinderschaukel hing. »Gibst du mir die Polly-Pocket-Dose?«
    Javis schüttelte den Kopf. »Du bist wirklich lustig, dass du wegen diesem geschmacklosen Teil extra vorbeikommst. Ganz ehrlich: Ich hab’s nicht geglaubt, dass dieses Plastikding der wahre Grund für deinen Besuch sein soll.«
    Langsam kam Ivy wieder zu sich. Die Dinge mussten beschleunigt werden. Der arme Willem saß zitternd und durchnässt in ihrem Hausflur, in der Hoffnung, dass er oben in ihrer Wohnung seinen Schlüssel wiederfinden würde, der unwiederbringlich in den Gully gefallen war. Sollte sie nicht besser Eve anrufen, dass sie ihn zu sich hereinließ, bis sie endlich wieder zu Hause war? »Was sollte sonst der Grund sein?«
    »Keine Ahnung.« Javis’ Mundwinkel hingen nach unten. Plötzlich sah er ganz erbärmlich einsam und unsicher aus. »Ich dachte, vielleicht willst du mich sehen. Ob du es glaubst oder nicht, Ivy, in den letzten Monaten ist mir klar geworden, dass du trotz deiner erschütternden Naivität ein netter Mensch bist. Du bist einfach nur naiv. Kann man dir das vorwerfen? In deinem bisherigen Leben ist eben alles glattgelaufen, du kennst keinen bodenlosen Abgrund, der dir emotionale Tiefe verleihen würde. Ist halt so. Irgendwann geht’s auch dir an den Kragen. Dann wirst du wissen, wovon ich spreche.«
    Javis stolzierte mit erhobenem Kinn aus dem Zimmer, Ivy folgte ihm in den Flur hinaus, während sie eine SMS an Eve tippte, mit der Bitte, den treuen Willem zu sich in die Wohnung zu holen, bis Ivy nach Hause kommen und ihn mutig über den Verbleib seines Tussauds-Schlüssels aufklären würde. Außerdem bedankte sie sich für den Kuchen und wünschte Eve alles Gute. Sie stieg die mit Teppich bezogene Treppe hinauf in den ersten Stock, wo sich am Ende des Flures Javis’ Arbeitszimmer befand. Im Laufe der Jahre hatte er nichts dazugelernt. Im Gegenteil. Er war noch unausstehlicher als je zuvor. Ivy war heilfroh, keine Waffe dabeizuhaben. Noch mehr von diesem dummen Zeug anzuhören, schaffte sie beim besten Willen nicht. Wie konnte man so einem Charakter klarmachen, dass er gewaltig auf dem Holzweg war? Umgehend würde sie sich von Alice ein Psychogramm von Javis erstellen lassen. Einfach nur, um zu wissen, ob es einen Fachbegriff für diese Art von psychischer Störung gab. Beinahe hätte sie ihm gesagt: »Du bist ein Arschloch, Javis.«
    Javis knipste das Licht an. Im Zimmer roch es unangenehm nach kaltem Rauch. Auf einem langen Tapeziertisch lag, neben einem hoffnungslos überfüllten Aschenbecher und zwei zerdrückten American-Spirit-Softpacks, ein Haufen zerfledderter Drehbücher und Theaterstücke. Auf dem Boden stapelten sich alte Magazine und Bücher und ein paar leere Cola-Dosen. Die Wände waren mit großformatigen Fotos tapeziert, die Javis in schauspielerischer Aktion zeigten. Ausgehend von den vorherrschenden Lichtverhältnissen, musste Ivy stark annehmen, dass er, trotz seiner elaborierten Ausbildung an der Royal Academy of Dramatic Art, vornehmlich als Laienschauspieler tätig war. Das Bühnenlicht war viel zu grell und hart. Die Bühnen klein, die Kulissen schäbig. Auf einem halbhohen Regal, das zwischen den beiden Fenstern stand, lag es. Das pinkfarbene Polly-Pocket-Herz. Neben einer leeren Bierflasche und einem Handyaufladekabel. Beinahe dreißig Jahre alt war die Dose nun schon. Ein Wunder, dass Javis sie noch besaß. Er überreichte sie Ivy mit ausgestrecktem Arm. »Da. Bitte. Deine wertvolle Polly-Pocket-Dose. Viel Spaß damit.«
    Am liebsten hätte Ivy sie gleich aufgeklappt und hineingesehen in diese freundliche, heile Welt. Doch sie hielt sich zurück und ließ sie augenblicklich in ihre kleine Harrods-Tüte plumpsen. »Danke, Javis, dass du sie für mich aufbewahrt hast.«
    »Was heißt: aufbewahrt? Ich bin einfach noch

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