Leichte Turbulenzen - Roman
Nathalie zu ihrer Schwester um. »Sag mal, Ivy! Was erzählst du denn da vor Lucy? Lass das mal bitte! Oder willst du, dass sie ein Trauma kriegt?«
Ivys Stimme klang rau. »Wovon soll sie denn bitte ein Trauma kriegen?« Von der Wirklichkeit?
Nathalie zog die Stirn in Falten und setzte sich wieder richtig hin. Es brachte ja nichts. Ihre kleine Schwester hatte – im Gegensatz zu ihr, die mehrere Fachblätter zum Thema Erziehung abonniert hatte – von Pädagogik keinen blassen Schimmer, außerdem wurde sie zusehends widerspenstiger. Vor drei Jahren hatte sie zum letzten Mal einen Freund gehabt. Das war doch nicht normal. Schließlich brauchte man jemanden, mit dem man etwas aufbaute. Jemanden zum Reden. Jemanden, mit dem man einschlief und aufwachte. Jemanden, mit dem man alt wurde und sich an die durchlebte Vergangenheit erinnern konnte. Ein letztes Mal durchstöberte Nathalie ihren Kopf nach alleinstehenden Männern in ihrem Bekanntenkreis. Vielleicht fiel ihr ja doch irgendeiner ein. Oder wenigstens einer, dessen Beziehung am seidenen Faden hing. Aber da war keiner. Alle befanden sich – wie man so sagte – in festen Händen. Sogar dieser Umwelttechniker aus dem Kindergarten, der sich weigerte, seine sommersprossige Freundin zu heiraten, die sich in der Kita-Garderobe permanent über seine lasche Art aufregte, sogar der wurde nun schon zum zweiten Mal Vater! Sie fuhren am Gate A und den wartenden Taxen mit den gelb leuchtenden Dachschildern vorbei. Hinter einem weißen Kleintransporter stellte Peer den Motor ab und sah seine Frau an. »Am besten, du bringst Ivy alleine rein, Schatz. Ich kann hier nicht stehen bleiben.«
Lucy betrachtete ihre Tante, die bewegungslos neben ihr auf der Rückbank hockte. Das ganze Wochenende über hatte sie schon diese alte Jeans an. Nur die karierten Blusen und die bunten Halstücher hatte sie gewechselt. Sogar auf dem Friedhof war sie in ihren silbernen Sandalen herumgelaufen, als sie einen Strauß weißer Astern vor Omas Grabstein gelegt hatten. Die verwelkten Rosen hatte Tante Ivy hochgenommen und eilig zum Komposthaufen gebracht, wobei ihre Sandalen bei jedem Schritt auf dem matschigen Weg kleben geblieben waren. Hinterher waren ihre Füße mit den rot lackierten Zehennägeln ziemlich dreckig gewesen. Lucy beugte sich vor, um zu sehen, ob Tante Ivy noch immer die Sandalen trug. Doch bevor sie das feststellen konnte, stieß ihre Tante mit einem Seufzer die Beifahrertür auf und stieg hinaus in die kühle Luft des Herbstabends. An ihr hetzten Reisende mit ratternden Rollkoffern vorbei. Sie knöpfte ihren schwarzen Wollmantel zu und zog die Mundwinkel mit aller Kraft nach oben. Gut, dass ihr Vater damals gleich ein Familiengrab gepachtet hatte. Wenn sie jetzt abstürzte, würde sie wenigstens neben ihrer Mutter zu liegen kommen. Während der Zeremonie würde es entsetzlich regnen, alle würden unter schwarzen Schirmen im Matsch stehen und bröcklige Erde auf ihren Sargdeckel werfen. Wenn sie doch nur gewusst hätte, woher diese sinnlose Flugangst kam? Jetzt war sie auch noch auf einen frisch ausgespuckten Kaugummi getreten. Ihre Sandale, die nur mit zwei dünnen Lederbändern am Fuß gehalten wurde, klebte am Asphalt fest. Über ihren Köpfen schoss wieder eine riesige Maschine dröhnend in den Abendhimmel. Nathalie und Peer schlugen die Wagentüren zu, Peer hob Lucy aus dem Kindersitz und kam mit ihr zu Ivy herum.
»Pass auf dich auf, Yvonnchen.«
»Ich bin in einen Kaugummi getreten.«
Sie beugte sich hinunter und rupfte ihre Sandale von dem klebrigen Batzen. Nathalie nahm die Reisetasche aus dem Kofferraum und ging damit vor bis zur Glastür. Dort wartete sie auf ihre zierliche Schwester, die sich von Lucy mit mehreren Küssen auf die Wangen verabschiedete. »Mach’s gut, mein süßer Wurm.«
Während Ivy in die Maschine steigen musste, blieb die glückliche Familie am Boden und fuhr angeschnallt, eine Kinderlieder- CD hörend, nach Hause. Zu ihren selbst genähten Kissen, ihren Büchern, Blumenvasen, gestaffelten Bilderrahmen, der Espressomaschine und den Bauernhofmagneten an der Kühlschranktür.
Ivy folgte ihrer Schwester ins Flughafengebäude und blies die Backen auf. Sollte sie es wider Erwarten schaffen, ohne tödlichen Zwischenfall nach London zu kommen, würde sie erst mal ein Dreivierteljahr lang Pause haben, bis sie erneut nach Berlin zu Lucys Einschulung fliegen musste. Das kommende Osterfest würde sie nämlich ausfallen lassen und in ihrer Wohnung mit
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