Leichtmatrosen: Roman (German Edition)
Bierkisten, jede Menge Flaschen, Gläser, Teller und solches Zeug. Kurz dachte ich daran, dass sich hier die Chance bot, unseren reduzierten Geschirrbestand mit Fremdbesitz aufzustocken, verwarf die Idee aber gleich wieder. Stattdessen nahm ich mir einen Kaffee und ging aufs Vorschiff. Das Marina-Faktotum kam den Steg entlanggewankt, einen rauchfreien Zigarrenstumpen zwischen den Lippen, und warf mir einen kurzen, rätselhaften Blick zu, dann half er der Besatzung eines kleinen Kajütboots beim Anlegen. Ich genoss den Kaffee und starrte mein Telefon an, das zwar den Versand von fünfundzwanzig Kurznachrichten bestätigte, aber auch den Eingang keiner einzigen neuen. Der Teilnehmer war weiterhin unerreichbar.
Mark erschien, erkennbar verkatert und mit verquollenen Augen, setzte sich neben mich und glotzte ungefähr zu der Stelle, an der sein Silberetui im Wasser versunken war. Er trank Sprudel, gierig, lautstark und direkt aus der Flasche. Dann kam Simon, natürlich rauchend, mit einem Kaffeetopf in der Hand und nachdenklich lächelnd. Er wirkte in etwa so frisch, wie ich mich fühlte – ein bisschen angegangen, aber voller Tatendrang.
»Du kannst etwas Mehl schnupfen, das brauchen wir sowieso nicht«, sagte er zu Mark und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Nach einem Kilo davon merkst du vielleicht was.«
»Lass mich in Ruhe«, raunte Mark und schob die Hand weg.
»Uh. Schon gut, Tiger.« Simon setzte sich auf die Bugreling. Henner kam im akkuraten Tennisoutfit an Deck (hatte der Mann ein Bügeleisen dabei?), hievte das Fahrrad an den Partyresten vorbei auf den Steg und verkündete, Brötchen zu organisieren.
»Dein Philosoph, dieser … äh«, sagte Simon, während wir Henner hinterhersahen.
»Adorno?«
»Jup.« Und die nächste Zigarette. »Der liegt daneben.«
»Lag. Ist seit über vierzig Jahren tot.«
»Geschenkt. Jedenfalls. Von wegen es gibt kein richtiges Leben im falschen. Der Satz ist zu lang. Es gibt kein richtiges Leben . Ohne Kompromisse geht es nicht. Man kann zum Beispiel seinen Freunden nicht in die Köpfe schauen. Denk mal daran, wie viele Leute nach der Wende überrascht waren, als sie feststellen mussten, dass ihre halbe Bekanntschaft aus Inoffiziellen Mitarbeitern bestand.«
»Schon klar. Er bezog das ja auch in erster Linie auf politische Systeme, in denen es sich Leute bequem machen, obwohl Widerstand angesagt wäre, weil das System zu ächtenist. Auf dein Beispiel bezogen, waren eher die IMs gemeint als jene, die mit ihnen befreundet waren.«
»Trotzdem. Jedes System hat seine Schwächen; alles hat Schwächen.«
»Ja, aber man sollte eben daran arbeiten, die zu minimieren. Und wenigstens keine faulen Kompromisse eingehen.«
»Genau das meine ich. Der Gedanke unterstellt, dass es richtig und falsch gibt. Das gibt es aber nur für einen persönlich und nicht als absolute Kategorie. Wahrheit existiert nicht.«
Ich sah Simme an, der rauchend auf den Mirower See sah, und konnte mir ein begeistertes Lächeln nicht verkneifen. »Es ist die Eigenart von Aphorismen, dass sie vereinfachen und verkürzen. Ich nehme an, dass du Adorno zustimmen würdest, wenn du sein Gesamtwerk lesen würdest.«
»Das«, sagte Simon bestimmt, »werde ich auch tun.«
Mark stand ächzend auf, warf uns einen Blick zu, der die mimische Entsprechung eines Vogelzeigens war, und lehnte sich über die Bugreling. Erst dachte ich, er würde entzugsbedingt kotzen, aber es war nur eine Art Dehnübung.
»Wir sollten ein bisschen aufräumen«, sagte er dann.
Der Ouzo war alle, aber eine etwas mehr als halbvolle Kiste Bier hatte überlebt. Wir sammelten schweigend ein, wovon wir glaubten, es würde zu unserem Inventar gehören, und schichteten den Rest aufeinander. Ein paar Urlauber kamen und holten Mobiliar ab, wobei sie uns freundlich zunickten.
»Flughafentestkomparse«, sagte Simon plötzlich.
Mark blickte auf. »Ja. Ich meine, wer kann schon von sich behaupten, mal so einen Job gemacht zu haben?«
»Nicht viele«, bestätigte der Handwerker.
»Oder produktfreier Produkttester. Ich war auch mal Schildermodel.«
»Schildermodel?«
»Für die Website einer kleinen Gemeinde irgendwo in Baden-Württemberg. Die haben ihre Wanderwege mit neuen Schildern ausgestattet, und ich habe mich mit zwei anderen Leuten in Outdoorkluft daneben gestellt und fotografieren lassen. Kann man immer noch auf der Website von denen sehen. Mark Rosen, der Kampfwanderer, der sich über die tolle neue Beschilderung freut. Gewandert
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