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Leichtmatrosen: Roman (German Edition)

Leichtmatrosen: Roman (German Edition)

Titel: Leichtmatrosen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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mit leuchtenden Augen zu uns. Kurz darauf standen weitere Plastik- und Anglerstühle auf dem Steg, und im Minutenrhythmus verlängerte sich das Bankett, nur die Losmacherfamilie ließ sich nicht blicken. Wir kippten Biere und Wodkas und Fruchtliköre und Ouzos und längst vergessen geglaubte Scheußlichkeiten wie Stonsdorfer , aber wir besoffen uns nicht – es war eher ein sanftes Sich-ans-Limit-Trinken, ohne Druck und bei vergleichsweise geringer Schlagzahl. Irgendwann lümmelte sogar der Zigarrenstummel-Seebär an einem der Tische und goss sich Bier in den Hals, als wäre sein Schluckreflex amputiert worden. Sofie und Walter saßen direkt neben Simon; ich beobachtete, wie das Paar abermals seine Nähe suchte, Simon aber eher auf Distanz blieb, bis er sich schließlich zu Sofie beugte, ihr etwas ins Ohr flüsterte und dabei bestimmt nickte. Die Frau sah ihn überrascht an und nickte ebenfalls, erst etwas verunsichert, dann lächelnd. Sie küsste ihn auf die Wange, danach entspannte sich die Situation.
    Wir quatschten und tranken, wechselten die Plätze, ab und an ging ich zum Ende des Stegs, setzte mich auf die Kante und starrte aufs Wasser, manchmal nahm ich eine Zigarette mit. Ich konnte nicht damit aufhören, die Faktenlage zu überdenken und die Möglichkeit, mit meiner Schlussfolgerung so sehr danebenzuliegen wie seinerzeit Christopher Columbus, als er gemeint hatte, Indien erreicht zu haben, obwohl es nicht einmal der richtige Kontinent war. Was, wenn ich wirklich von völlig falschen Tatsachen ausging? Wenn nicht Cora es war, die unsere Beziehung aktiv torpedierte, sondern ich mit der Annahme, sie würde mich betrügen? Aber aus allen möglichen Optionen fand ich dennoch keine, die wahrscheinlicher war. Ich sah sie wirklich vor mir, Cora mit ihren tiefbraunen, riesigen, meistens hoffnungs- und liebevoll dreinschauenden Augen – dieser Gedanke rührte mich mehr, als ich mir einzugestehen bereit war –, aber das Rätsel blieb eines. Nach dem fünften oder sechsten Stoni ging ich in die Kabine und wählte abermals ihre Nummer, erstarrte, als das Freizeichen zu hören war, dann knackte es, und die Verbindung war weg. Nach der Wahlwiederholung hörte ich die Mitteilung, dass der Teilnehmer nicht zu erreichen wäre.Das gepflegte Besäufnis endete morgens um kurz vor vier, als es am Horizont schon wieder zu schimmern begann. Mark warf mit großer Geste – aber hackedicht, deshalb war die Geste wertlos – seine Kokserutensilien ins Wasser, Simon nuschelte abwechselnd Karolas Namen und das Wörtchen »Scheiße«, Henner hatte schon wieder irgendwas gerade noch so kategorisierbar Weibliches an der Angel, Finn-Lukas schlief auf der Heckterrasse der Tusse , Walter und Sofie besprachen letzte Details mit einem interessierten, ebenfalls schwerst angegangenen Pärchen, der Seebär schnarchte laut, den Kopf in einer Bierlache auf dem Tisch abgelegt, ein paar jüngere Leute schwammen nackt im See, und ich tippte Dutzende Kurznachrichten, die wahrscheinlich schwer zu verstehen waren, weil ich mit der komischen Korrektur-und Vorschlagsfunktion längst nicht mehr klarkam, schickte aber alle ab, obwohl oder weil ich wusste, das am nächsten Morgen – also gleich – zu bereuen. Als ich im Bett lag, zeigte der kleine Zeiger genau auf die Fünf. Ich schlief umgehend ein, als hätte mich jemand abgeschaltet.

Tag 9:
Kalfatern
    Kalfatern – die Fugen
zwischen den hölzernen
Schiffsplanken abdichten.

Obwohl es erst kurz vor halb neun war, als ich erwachte, fühlte ich mich erfrischt, katerfrei und relativ ausgeschlafen. Von draußen erklangen die Geräusche morgendlicher Geschäftigkeit; Bootsbesitzer schlurften zu den Waschhäusern oder kamen vom Bäcker zurück, erste oder zweite oder dritte Schiffe legten ab, ein paar Enten- und Haubentaucherfamilien buhlten quakend und quiekend um Brotreste, entferntes Kindergeschrei erschallte, dazu das leichte Plock-Geräusch, das im Inneren der Tusse zu hören war, wenn es Seegang oder von anderen Booten verursachten Wellenschlag gab. Es war heiß in der Kabine; ich war durchgeschwitzt, obwohl ich nackt auf der zerknüllten Bettdecke lag. Ich ging ausgiebig pinkeln und pumpte mich anschließend dusselig, bis ich bemerkte, dass der Hebel in der falschen Stellung stand. Henner saß im Christen-Schlafanzug auf der Terrasse und schlürfte lächelnd Tee, aber er hatte außerdem vortrefflichen Kaffee gekocht. Auf dem Steg befanden sich die Überreste unserer Party – Tische, Stühle, leere

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