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Leichtmatrosen: Roman (German Edition)

Leichtmatrosen: Roman (German Edition)

Titel: Leichtmatrosen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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mächtigen Holzpfosten, neben denen ein gemähtes Stück Wiese dazu einlud, barfuß herumzulaufen. Henner warf seine Leine über den Pfosten, ohne sichaus der Sitzposition zu erheben, Simon zog uns hinten ran, ich schaltete die Maschine ab, ohne auch nur für eine Sekunde das Bugstrahlruder benutzt zu haben. Chris Rea sang dazu »Auberge«, einen Song, den ich sogar recht passend fand. Trotzdem machte ich mitten im Refrain das Radio aus.
    Es dauerte noch eine Weile, bis der Sinn der Anlage erkennbar wurde: Diese Schleuse öffnete ihr diesseitiges Tor nicht, indem es gegen die Fließrichtung des Wassers aufgeschwenkt wurde, sondern hob es in die kantige, hohe, u-förmige Stahlkonstruktion darüber. Als wir darunter hindurchfuhren, tröpfelte Wasser vom angehobenen Schleusentor auf unser Boot. Ich legte meinen Kopf in den Nacken, um durch das geöffnete Dach zum Tor zu schauen; ein beeindruckender Anblick, Tonnen von Stahl in der Luft über mir. Auch die paar Tropfen, die mir ins Gesicht fielen, minderten das Erlebnis nicht. Die Besatzung vor uns löste die Schleusenanforderung aus, als wir unsere Position eingenommen hatten, und kurz darauf senkte sich das Tor wieder. Ich fixierte trotzdem die Einfahrt, aber Kanus waren nicht zu sehen. Stattdessen passierte quasi in letzter Sekunde eine Vogelfamilie die Öffnung: zwei erwachsene und drei junge Schwäne, die mit großer Selbstverständlichkeit und ohne jede Hektik unter dem sich schließenden Tor hindurchschwammen, unser Boot und das vor uns hinter sich ließen und kurz vor dem anderen Tor Warteposition einnahmen. Im Gefieder eines größeren Schwans steckte ein Angelhaken mit glitzerndem Plastikzeugs drumherum, und um den Hals des Tiers wand sich eine verhedderte, knotige Angelschnur. Henner und Simon absolvierten schweigend, die Stahlwände fixierend, ihren Schleusendienst. Ich wusste nicht, ob sie die Tiere bemerkt hatten, die, als sich die Klapptore auf der anderen Seite öffneten, flink, jedoch ohne jede Eile hinausschwammen, aber ich empfand auch nicht das Bedürfnis, sie darauf hinzuweisen. Es war ein privater Moment: ich und die Schwanfamilie.
    Die Landschaft vorher hatte sich beeindruckend gezeigt, aber was sich uns jetzt präsentierte, war pittoresk, beinahe schon etwas affig. Die Havel wand sich durch Grasflächen, auf denen Kühe weideten, vorbei an prächtig blühenden Wiesen, über denen Tausende Libellen, Schmetterlinge, Bienen und sonstiges Getier umherflog, im Wechsel mit bewaldeten, aber lichten Abschnitten, während die Sonne die Szenerie mit unwirklichem, gleißendem Licht flutete. Wir näherten uns der Schorfheide, einem großen Naturschutzgebiet, in dem außer uns und den anderen Bootsbesatzungen keine Menschenseele unterwegs war. Ich sah abermals einen dieser flirrenden, blauen, geisterhaften Vögel, die ich schon am ersten Abend gesehen hatte, und Henner blickte kurz von der Lektüre auf, was er seit der Schleuse Bredereiche regelmäßig tat. Er drehte sich zu mir und sagte leise: »Ein Eisvogel. Gibt es nicht mehr viele von.« In großer Höhe zog ein Vogel seine Kreise, dessen Flügel am Ende rötlich schimmerten. Henner bemerkte meinen Blick. »Ein Roter Milan, schätze ich.«
    Und es wurde schöner und noch schöner; ich wünschte mir ein fotografisches Gedächtnis, um das später irgendwann noch einmal in aller Ruhe erleben zu können, in zwei Wochen oder zwanzig Jahren, aber keine Digitalkamera, die nur unzureichend aufnahm, was sich tatsächlich rund um uns abspielte. Henner machte ab und zu ein Foto, legte den Apparat aber gleich wieder beiseite, statt, wie das so viele taten, umgehend zu kontrollieren, was vom Augenblick auf den Chip gerettet worden war. Ich sah eine merkwürdige, sich windende Linie, die vom rechten Ufer aus zügig, aber auch irgendwie lässig in Richtung auf das andere Ufer hin anwuchs, erkannte an ihrem Ende schließlich einen graugelben, sehr kleinen Kopf, der aus dem Wasser lugte: eine Schlange, die durch die Havel schwamm. Ich spürte, wie ich eine Gänsehaut bekam, denn ich hatte, das Reptilienhaus des Berliner Zoos ausgenommen, noch niemals eine lebende Schlange gesehen, und das Zoo-Erlebnislag Jahrzehnte zurück, hatte noch in Begleitung meiner Eltern stattgefunden. Henner drehte sich wieder zu mir, sagte aber nichts, als ich lächelnd nickte; auch er hatte das Tier beobachtet. Unglaublich. Eine lebende, echte Schlange . Ein Viech, das so sehr in meinen Alltag gehörte wie eine Wüstenspringmaus, ein indischer

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