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Leichtmatrosen: Roman (German Edition)

Leichtmatrosen: Roman (German Edition)

Titel: Leichtmatrosen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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zu seine, beugten sich aber den stummen, vielsagenden Blicken der eigenen Weiber. Als die junge Frau, deren rundes, gleichsam aufgepustet wirkendes Gesicht aus der Nähe von einem zurückliegenden gescheiterten Kampf gegen Akne zeugte, schließlich an unseren Tisch trat, war sie bereits ein bisschen demotiviert. Aber Simon lächelte, zog seine farbklecksverzierteGeldbörse aus der Gesäßtasche, legte zwei Zwanziger auf den Tisch und sagte: »Fünfmal für jeden hier.«
    In diesem Augenblick kamen die verbrannten Steaks, die dennoch schmeckten. Während wir vertrocknetes Schweinefleisch in hausgemachtes Ketchup tauchten, das vor allem nach Essig schmeckte, öffneten wir nacheinander die zwanzig Umschläge, die Simon gekauft hatte. Es gab viele Umarmungen und Küsse von der Braut, dazu eine ad-hoc-Wahrsagung, was die angetrunkene junge Dame überforderte (»Du wirst glücklich werden, ehrlich«), zwei Gutscheine für gemeinsamen Urlaub, falls die Ehe die nächsten fünf Jahre nicht überstand – und einen Engtanz mit einer Brautjungfer nach Wahl, den ausgerechnet ich zog. Marina, die Braut, ging kieksend zum Nachbartisch und kehrte kurz darauf in Begleitung von fünf Freundinnen zurück, die auf unterschiedliche Weise unattraktiv waren: langbeinig, dafür obenrum verwachsen, überschminkt, einfach nur unendlich doof – oder durchaus hübsch, aber mit energisch-ablehnendem Blick an mir vorbeischauend. Ich wählte natürlich diese, die Braut torkelte zur Musikanlage, die unter einem Vordach des Hauses aufgebaut war, zu dem der Biergarten gehörte, palaverte dort kurz – und schließlich erklang irgendein Schmachtfetzen, Whitney Houston oder ähnlich. Ich nickte der mürrischen, aber verhältnismäßig hübschen Frau zu, nahm ihre Hand – und dann tanzten wir. Es war, wie mir nach wenigen Takten bewusst wurde, das erste Mal seit über fünf Jahren, dass ich mit einer Frau Körperkontakt hatte, die nicht mit mir verwandt war oder nicht Cora hieß, und ich hielt meine rechte Hand im kurzen Abstand über ihrer Hüfte, wie ich das vor Jahrzehnten bei Klassenfeten getan hatte: Zufällige Berührungen waren in Ordnung, Aufdringlichkeit nicht. Schließlich fixierte sie mich, beim ersten Refrain, sah mich mit ihren – dunkelblauen? – Augen an, als wäre ich der größte Vollidiot diesseits des Äquators, griff hinter sich und drückte meine Hand an ihrenwarmen Rücken – und dann tanzten wir. Ich atmete vorsichtig, genau wie damals, achtete auf jeden Schritt, sah sie gelegentlich von der Seite an. Sie war auf seltsame Art hübsch, aber auf eine, die mich nicht anzog, es ging um etwas anderes: Ich spürte die Nähe ihres Körpers, eines weiblichen Körpers, der neu für mich war, und fühlte zugleich eine Sehnsucht, die sogar jene überstieg, die ich beim Anblick der dunkelblonden Kussmundfee in der Schleuse empfunden hatte. Nicht im Traum hätte ich erwogen, mit dieser Frau was anzufangen. Es ging um nichts Faktisches, sondern die Option . Das stillschweigende Versprechen zwischen Cora und mir, das mich während der vergangenen Jahre an sie gebunden hatte, hatte mich vergessen lassen, wie sich solche Momente anfühlten, wie es war, dies erneut zu erleben. Doch der Song endete, die Frau löste sich wortlos von mir und hielt auf ihren Tisch zu, ohne sich noch einmal umzudrehen.
    Danach wurde die Gesellschaft im Biergarten zu einer ungezwungenen Feier. Ein Tisch nach dem anderen winkte die Braut herbei, Kuverts wurden verkauft, es gab Bussis, Umarmungen, Gelächter, Schnapsrunden und weitere Tänze. Meine Begleiter überboten sich damit, Tabletts voller Korn, Pfläumchen und goldgelbem Branntwein – den es nirgendwo in der realen Welt mehr zu kaufen gab – für den Tisch nebenan zu bestellen, mit dem Weibsvolk anzustoßen und sich dabei wie balzende Enten aufzuführen. Sogar Henner hatte sich dem Tun angeschlossen, und sein zunehmend alkoholisierter Schädel glänzte rosérot im Licht der einsetzenden Dämmerung. Hin und wieder sah ich zu meiner Bluespartnerin, die aber nur ihr unmittelbares Umfeld wahrzunehmen schien, gelegentlich am Sekt nippte und mir keinen Blick spendierte.
    Simon trank, Mark trank, Henner trank, nur ich lag mit meinen zwei oder drei Bieren noch weit hinten, ohne geringste Lust darauf zu verspüren, mir ebenfalls einen anzuballern, denn das hätte vermutlich die Schönheit des vergehendenTages vernichtet. Keiner bemerkte, dass es zu dunkeln begann. Ich winkte der Kellnerin, zahlte – von den anderen

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