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Leichtmatrosen: Roman (German Edition)

Leichtmatrosen: Roman (German Edition)

Titel: Leichtmatrosen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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krächzender Stimme. »Scheiße, Scheiße, Scheiße. Hast du Kopfschmerztabletten?« Er hatte Mühe, das Wort auszusprechen.
    Ich schüttelte lächelnd den Kopf. »Aber Henner hat ganz sicher welche.« Er hatte wahrscheinlich sogar Skorbuttabletten dabei, weil er in irgendeinem Fachartikel davon gelesen hatte, dass diese Krankheit vor Jahrhunderten Haupttodesursache von Seefahrern gewesen war.
    »Henner schläft noch«, murmelte Simme. Es war kurz nach neun, ich hatte bereits gebadet und zwei Brote mit mordsgroßen Jagdwurstscheiben gegessen – einer Wurstsorte, die in unserem Haushalt seit über zwei Jahren nicht mehr vorkam. Ich nickte, denn Henner war zwar einen halben Meter größer als Simon und wog mindestens das Anderthalbfache, aber die nicht sehr lange, jedoch intensive Schnaps-Bier-Orgie vom gestrigen Abend würde er wahrscheinlich auch nicht viel leichter wegstecken. Als hätte jemand meine Gedanken erraten, polterte es direkt unter uns. Eine gedämpfte Stimme, die ich aber weder Henner noch Mark zuordnen konnte, wiederholte Simons Fluch, dann geschah eine Weile nichts. Die Enten schnatterten und umpaddelten weiterden Bug der Dahme , aber die Brötchen waren längst aufgebraucht.
    Dann kam Henner an Deck, sich mühselig an der Reling entlanghangelnd, mit starrem Blick auf die eigenen Füße, die in blaugestreiften Adiletten steckten. Er trug seine Ray-Ban, außerdem eine hellgraue Neunziger-Jahre-Jogginghose und ein zerknittertes, weißes XXL-Shirt, das in Herzhöhe mit dem christlichen Fischsymbol und der Aufschrift »Treffen Evangelischer Freikirchen, Erfurt 2008« bedruckt war, aber der Aufdruck war stark ausgewaschen, weshalb ich annahm, dass er das Kleidungsstück schon eine ganze Weile ausschließlich als Nachthemd benutzte. So wie ich mit dem steinalten Def-Leppard -Shirt verfuhr, das mir ein spaßiger Kollege aus dem vorigen Verlag geschenkt hatte, weil ich mich an einem weinseligen Abend nach einem anstrengenden Buchmessetag positiv über das Album »Hysteria« geäußert hatte. Ich zog es an, wenn die Kälte sogar durch die Doppelverglasungen unseres Schlafzimmerfensters kroch, Cora einen neckischen Flanellponcho zum Schlafen trug und die Wärme unserer nackten, aneinandergepressten Körper nicht mehr ausreichte, um das Kribbeln der eisigen Luft aus dem Bett zu verbannen. Also etwa dreimal im Jahr.
    »Morgen«, grunzte er.
    »Kannst du mir kurz die Sonnenbrille borgen?«, fragte Simon, dessen Augen tränten. Der Pfarrer reichte ihm die Brille, und schmale, stark gerötete Äuglein kamen dahinter zum Vorschein. Henners Gesicht war fleckig – die alkoholbedingte Blässe und Sonnenverbrennungen vom Vortag kämpften um Flächen –, und auch seine Hände zitterten. Als sich Simon die nächste Zigarette anzündete, bekam der Pfarrer einen Hustenanfall, der über den kleinen See schallte, so dass sogar die Besatzungen der beiden kastenförmigen Boote, auf den hohen Dächern beim Frühstück sitzend, besorgt zu uns herüberschauten. Ich winkte fröhlich, sie winkten zurück. Mitgefühlfür meine Genossen empfand ich keines – wer feiern kann, muss auch leiden können.
    Dann traf die dritte Alkoholleiche ein, zwar in der Badehose, aber Mark hob die große, etwas kindische, dunkelgrüne Sonnenbrille mit orangefarbenen Gläsern nur kurz an, warf einen Blick auf die Enten und setzte sich dann stöhnend zu uns.
    »Ich bin krank«, sagte er theatralisch.
    »Wie sind wir hierhergekommen?«, fragte Simon. Er verdrehte sich, in einiger Entfernung passierte ein kleines Holzhausboot mit schnarrendem Außenbootmotor und wehender Piratenflagge – wie originell! – den See seitlich. Der Lankensee war nicht viel mehr als eine große Ausbuchtung, keine zweihundert Meter Durchmesser, in der Mitte sechseinhalb Meter tief, umgeben von Birken und Buchen, gesäumt von Schilf und kleinen Seerosenfeldern, durch die piepsende Haubentaucher schwammen. »Und vor allem, wo sind wir?«, ergänzte er.
    »Nicht weit vom Biergarten«, sagte ich. Henner stöhnte, als er das Wort hörte. »Vielleicht achthundert Meter. Ich habe uns hergefahren, aber ihr habt brav die Anker ausgelegt und sogar noch zwei Feierabendbiere getrunken.«
    »In meinem Mund schmeckt es grausig«, sagte Henner. »Ich habe mir schon zweimal die Zähne gebürstet, aber es ist, als würde ich auf biergetränkten Aschenbechern aus Pappmaché herumkauen. Scheußlich.«
    »Das kommt davon«, presste Mark hervor und hielt sich dann den Schädel. »Hat wer

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