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Leichtmatrosen: Roman (German Edition)

Leichtmatrosen: Roman (German Edition)

Titel: Leichtmatrosen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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wir fünfundzwanzig Prozent, die Krankheit zu bekommen, und damit eine von fünfundsiebzig, an etwas anderem zu sterben. Jemand, der Krebs kriegt, kriegt ihn mit hundertprozentiger Sicherheit. Verstehst du? Man zieht nicht das eine Lottolos von vieren, von denen eines den Hauptgewinn enthält. Man ist dieses Lottolos. Dieses Spiel mit der Stochastik ist lediglich ein obskurer Selbstbetrug, der aber gut funktioniert, weil wir Menschen so gebaut sind – und uns ansonsten massenweise von Hochhäusern stürzen würden.«
    »Ich begreife den Zusammenhang nicht ganz«, gab ich zu, den Blick auf eine Entenfamilie gerichtet, die unseren Wegkreuzte, dabei aber eine lässige Ignoranz der gefährlichen Situation gegenüber an den Tag legte, die ich kurz als bewundernswert empfand.
    »Wenn du die erste Zigarette rauchst, stellst du als jemand, der zu den fünfundzwanzig Prozent gehört , unverrückbar die Weichen auf dem Weg zum Karzinom – es sei denn, es gelingt dir, rechtzeitig vom Todeszug abzuspringen. Der Krebs wird zum Faktum, verstehst du? Und ebenso ist es ein Faktum, dass sich die Menschen Götter ausgedacht haben. Daran kannst du nichts ändern, indem du dir einredest, etwa einer von Aquins quälenden Gottesbeweisen hätte auch nur die geringste Substanz oder gar Relevanz – es ändert nichts an den Tatsachen , und schon die Basis der Argumentation basiert auf nichts als Humbug, Märchen, jahrtausendealten Mythen und den Gedanken von Leuten, die den Himmel über uns für eine Art Dekoration hielten.« Er wandte sich Simon zu und sagte sanft: »Übrigens, du rauchst zu viel. Viel zu viel.«
    Simon blickte irritiert auf, weil er – wie ich – konzentriert gelauscht hatte, sah Henner mit seinen wasserblauen, klaren Augen an, lachte dann, woraus – erstmals seit Reiseantritt – ein ziemlich krächzendes Husten wurde.
    »Das ist wirklich ein Randproblem«, sagte er. »Wie etwa wenn es bei dir ums Christentum oder den Islam ginge. Meine Lunge ist mit Baustaub so stark angefüllt, dass der Teer die Kapillargefäße nicht einmal mehr erreicht . Als mein Lungenvolumen zuletzt gemessen wurde, war es um fast einen Liter geringer als drei Jahre vorher. Wirklich, mein Freund, die Fluppen sind höchstens Kosmetik.« Er pausierte und sah Henner durchdringend an. »Aber eines interessiert mich doch: Gibt es noch etwas, woran du glaubst?«
    Der Pfarrer legte den Kopf schief. »Glauben im religiösen Sinn bedeutet, etwas mit Gewissheit anzunehmen, für das es in unserer Welt keinen Beweis gibt – dieses Glauben ist letztlich aus Sicht der wirklich religiösen Menschen Wissen . Wenndu also das meinst – nichts. Ich glaube an nichts, weil ich der Meinung bin, dass das unnötig ist: Die erfahrbare Welt bietet genug, da muss man sich nicht noch etwas dazuerfinden, das man glauben kann. Aber ich meine , dass die Goldene Regel essentiell ist.«
    »Die Goldene Regel?«, fragte ich und befürchtete für einen Augenblick, mich als Volldepp zu entlarven. Die Formulierung kam mir bekannt vor, aber ich konnte sie nicht einordnen.
    »Geh so mit anderen um, wie du möchtest, dass sie mit dir umgehen«, erklärte Simon lächelnd. Ich warf ihm einen anerkennenden Blick zu.
    »Genau.« Henner nickte. »Davon abgesehen glaube ich zu wissen, dass die Menschheit keine so großartige Erfindung ist. Jeder von uns lebt auf Kosten anderer. Wir nehmen entsetzliche Qualen und viel Unheil in Kauf, um ein bequemes Leben zu führen. Sagen wir’s mal so: Ein Gott, der sich das ausgedacht hat, muss ein ziemliches Arschloch sein.«
    »Stolpsee voraus!«, rief Mark von hinten.
    Voraus lag die Ausfahrt in Richtung Lychen, die Richtung, aus der uns vorgestern – vorgestern! – die Wasserschutzpolizei überrascht hatte. Nach links führte der Kurs zur Basis, weiter in das größere Revier. Aber es war auch schon früher Nachmittag, weshalb ich vorschlug, vielleicht lieber Kurs Nordost anzulegen, um etwa in Lychen zu übernachten. Immerhin hatten wir Zeit – und letztlich überhaupt keinen Plan.
    Die Wartestelle der Schleuse Himmelpfort, von der am Warteplatz nur die Signalanlage zeugte, denn sie lag hinter einer Kurve, war ordentlich belegt. Henner hatte den Ortsnamen mit einem schmalen Grinsen zur Kenntnis genommen, und ich dachte über Wahrscheinlichkeiten nach, während ich ihn beobachtete – etwa jene, als Mann ungefähr 73 Jahre alt zu werden, was keine Garantie dafür war, erst mit über siebzig den Löffel abzugeben und nicht viel früher oder im

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