Leichtmatrosen: Roman (German Edition)
Dabei hatte er Wochen damit verbracht, dieses und nur dieses Wort zu wiederholen, jede andere Silbe in Gegenwart des Kindes meidend.
Henner durchlebte eine karge, tragische, aber durchaus liebevolle Kindheit – die Zuneigung für den eigenen Sohn kam gleich nach Balsams Gottesliebe. Aber im Dorf wurde das Leben immer schwieriger, weil keiner mit dem Vater zu tun haben wollte und die Andachten immer leerer wurden, da Balsam nach wie vor Reden schwang, auch direkt vor der Kirchentür, die davontrottenden Gemeindeglieder belästigend, die die Quizshow im Fernsehen nicht verpassen wollten. Er wurde entlassen und zog in den Sündenpfuhl West-Berlin, wo er die Siebenten-Tags-Adventisten für sich entdeckte. Jan-Hendriks Bestimmung aber stand fest und war unausweichlich, sogar aus eigener Sicht, denn die Frage, ob es Gott gab oder nicht, stellte sich ein heranwachsendes Kind nicht, das vor dem Essen betete, pausenlos Gottesdienste besuchte und mit den Worten in die Nacht geschickt wurde, dass der Herr alles sähe, über seinen Schlaf wachte, die Sünden bestrafen und die guten Taten lohnen würde. Für den kleinen Henner stand die Existenz des »lieben Gottes« so sehr fest wie die Rundheit der aufgehenden Sonne, was ihn an der Grundschule zu einem Faktotum, an der Oberschule aber zu einem krassen Außenseiter werden ließ. Weitaus klüger als der Vater, aber weit weniger vom Leben wissend, folgte Henner dem Weg, der ihm vorbestimmt war, was häufig mit einem großen Glücksgefühl verbunden war, einem, das die aufkeimenden Zweifel und die anderen Schwierigkeiten anfangs noch leicht vergessen ließ.
Doch die Kontrollmöglichkeiten des alternden Vaters ließen nach, die säkulare Gesellschaft drang auf Jan-Hendrik ein, der ein Einser-Abitur hinlegte und sofort Philosophie und Theologie an der Uni belegte. Hier spürte er erstmals, dass dieAbsolutheit seiner Lebenssicht auch von Menschen, die er als Brüder im Geiste begriff, nicht geteilt wurde, dass es mehr als Zweifel, sondern nachvollziehbare, unwiderlegbare Gegenargumente gab, die aufs Äußerste schmerzten. Er durchschritt das Studium und fand heraus, dass sich beide »Wissenschaften« entwickelt hatten, die Philosophie war erblüht und gewachsen, während die Theologie immer nur Schritte zur Seite machte. Mit jedem Schlag, den die Wissenschaft den Religionen zufügte, erzitterte das Gebäude, also baute man Stützpfeiler, Tragseile, Querverstrebungen, nannte alles, was widersprach oder sich nicht vom Katechismus vereinnahmen ließ, eine Prüfung Gottes, übte sich in der Erfindung von metaphorischen Auslegungen und Adaptionen von Gewissheiten, deren Inhalte fortan pausenlos wechselten. Henner machte all das mit, glaubte, Gott im Herzen zu tragen, beendete die Studiengänge, absolvierte Referendariate, wurde schließlich Gemeindepfarrer. Bei einem Seminar in Brasilien lernte er die etwas grobschlächtige, aber hinreißend freundliche Consuela kennen, die ihm nach einem gemeinsamen, sehr keuschen Abend folgte wie ein Kuckucksküken den unfreiwilligen Eltern, beugte sich dem Druck der mitgereisten Gottesmänner, die eine Fügung erkannten, heiratete sie und schleppte sie ins Berlin der beginnenden Neunziger. Wo er sofort wieder in Zweifel gestürzt wurde, etwa bei der Theodizee-Frage, jener, ob es einen allmächtigen, allwissenden, gütigen Gott geben könne, der trotzdem Naturkatastrophen und Nazis zuließ. Bisher hatte er sich den wachsweichen, pseudoklugen Antworten der Theologen gefügt, sie halbherzig für sich angenommen, aber diese Frage, die ihn zerrissen hatte, hinterließ eben einen Riss. Er stürzte sich in die Gemeindearbeit, nahm fast am Rande wahr, vom Onkel geerbt zu haben, dem Bruder des Vaters, den er nie kennengelernt hatte, und begann damit, es sich bequem zu machen, Glauben durch unopulenten Hedonismus zu ersetzen. Aber in ihm brodelte es, die Basisseiner Existenz erodierte, die er zunehmend für einen Anachronismus hielt, für einen Außenposten, der ein Land verteidigte, dessen Regierung längst abgedankt hatte. Consulea, selbst unfruchtbar, aber gläubig wie ein geistig komplett abgehakter Märtyrer, begann damit, das Haus mit Pflegekindern zu füllen, kleinen Seelen, die vor dem Teufel gerettet werden mussten. Und Teufel, so viel stand für Consuela fast, waren nahezu alle außer ihr, dem über alles respektierten Jan-Hendrik – und der wachsenden Kinderschar.
Der Schritt vom Zweifel zur Ablehnung war nicht groß, zumal die fadenscheinigen
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